Bilder Aus Dem Berliner Leben
Gesichtsausdruck, als wollte sie sagen: Schlaft ihr nur! Solange ihr schlaft, hat die Welt Ruhe! Wieviel besser ist es auf Erden, wenn die noch nicht aufgestanden sind, die den vielen Lärm machen; auch der noch nicht, der im Parlamente sich zu rühmen pflegt, daß er am frühesten von allen aufstehe! ...
Der einzige, mit der Autorität und Gewalt des Gesetzes Bekleidete, der um diese Zeit an den Ecken der Straßen auftaucht, ist der Schutzmann. Aber auch er ist jetzt ein gemütlicher Mann gegen das, was er in den späterenStunden des Tages vorstellt. Er ist der gute Freund der Portiers, die mit Schneeschippe, Besen, Schaufel und Aschenkasten herauskommen, um den Bürgersteig gangbar zu machen. Sie haben den größten Respekt vor dem Schutzmann, in dessen Zügen alsdann manchmal etwas erscheint wie ein menschliches Lächeln. Davon wissen auch nur wir, die frühen Leute, zu erzählen. Denn wer hätte sonst jemals einen Berliner Schutzmann lächeln sehen?
Indessen bin ich in den Tiergarten hinausgetreten, und die Pracht und Schönheit des Wintermorgens beginnen ihr magisches Spiel. Wie ein Zauberpalast steht er vor mir, dieser unvergleichliche Park. Seine dunklen, hohen Säulen, die Bäume, mit phantastischen Kränzen von Schnee behängt, mit der bläulichen Fernsicht seiner Alleen und dem schimmernden Eisspiegel seiner Seen – mit dem Monde, der groß und golden noch im klaren Äther des Westens schwebt, mit dem feurigen Morgenrot, das den ganzen Osten färbt. Das Eichhörnchen schlüpft über den Weg, die Krähe schwingt sich hoch über die Schneekrone der Kiefer. Hier und dort und immer mehr beleben sich die Pfade, die von den Seitenstraßen nach dem Brandenburger Tor und den Linden, aus dem Innern der Stadt in unsere Vorstadt und von Moabit in die Geschäftsgegenden des Westens führen. Handwerksleute sind es, Schneidermamsellen, Putzmacherinnen und Ladenmädchen; Buchhalter und Kontoristen, tüchtige Männer, die dem Anscheine nach gut geschlafen und gut gefrühstückt haben, mit sich und der Welt in Frieden leben und deren Behagen nichts vergleichbar, wenn sie so des Morgens von Haus kommen, ihre erste Zigarre im Munde. Wie der Duft derselben mir zu Herzen geht, trotzdem ich nicht darauf schwören möchte, daß es 85er Importen sind. Aber er weckt liebliche Vorahnungen nichtsdestoweniger, und ich freue mich jedesmal,wenn ich diesen Männern begegne. Denn sie geben mir, indem sie, wichtig und laut miteinander redend, ihrem Geschäfte zusteuern, an jedem Morgen aufs neue die Zusicherung eines Glücks, das, gleichsam mitteninne zwischen den Bahnen des Ruhms und des Ehrgeizes, der Macht und des Reichtums, von diesen weder berührt noch gestört wird. Hier auch, wo eine Querallee mündet, ist die Stelle, an der ich jahrelang ein merkwürdiges Paar traf – frühe Leute wie wir andern und immer mit dem Glockenschlag. Zuerst, in der Dämmerung, konnte ich sie nicht recht erkennen; ich sah nur, daß sie Arm in Arm gingen, und hörte nur, wie sie beständig miteinander sprachen, als ob sie junge Eheleute wären, die sich unendlich viel zu sagen haben. Aber sie waren in der Tat ein alter Mann und eine alte Frau, die sich zärtlich zu lieben schienen und denen offenbar der Morgenspaziergang so zuträglich war, daß sie mit behenden Schritten dahingingen, immer untergefaßt und immer plaudernd. Philemon und Baucis, dacht ich, wenn sie vorüberkamen, und oftmals blieb ich stehen, um den beiden Alten, Liebenden, nachzuschauen. Aber eines Tages kam er allein, und eines andern Tages blieb auch er aus; und seitdem suche ich im ganzen Tiergarten die beiden verschlungenen Bäume, die einst Philemon und Baucis waren.
Und hier auf einmal, wo der schmale Baumgang nach der breiten Tiergartenstraße sich öffnet, bin ich mitten unter der Jugend, die jetzt, wenige Minuten vor acht, in hellen Haufen zur Schule strömt. Aus dem Morgenrot tritt die Sonne heraus und beleuchtet mit ihrem ersten goldnen Strahl diese fröhliche Schar, die sich wie eine kleine Armee dem gemeinsamen Ziel entgegenbewegt. Und hier unter ihnen, mit so manchem halbvergessenen Wort aus halbvergessenen Büchern, das ich erhasche, werden die alten, glücklichen Erinnerungen wach, vonder rosenfingrigen Eos und dem vielgewandten Odysseus – und da, wahrhaftig – es sind die Verwandlungen des Ovid, Buch acht, Vers 616 – es ist die Geschichte von Philemon und Baucis, die der eine Junge dem andern abhört:
Während um beider Gesicht schon wuchs in die Höhe der
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