Bilder bluten nicht
Stahl, diesem verwirrenden Gemisch aus Kinos und Cafés, aus Parfümerien und Pizza-Stuben, gähnt unheildrohend das Loch von Paris. 35 Meter tief und so groß wie vier oder fünf Fußballfelder. Und die gilt es auch noch zu füllen. Mit einem riesigen Auditorium und einem Schwimmbad und Sporthallen und Bibliotheken und und und.
Eine Symphonie aus Wunschtraum und Alptraum. Einen ,Louvre des Volkes’ wollte Napoleon an die Stelle setzen, an der der Friedhof der Unschuldigen aufgelassen worden war. Eineinhalb Jahrhunderte später ist es eine fast schon museale Baustelle. Bretterzäune versperren den neugierigen Blick auf Schutt und Schlamm. Nestor Burma hätte auf dem Weg zu Lheureux’ Hotel in der Rue de Valois einen weiten Bogen machen müssen.
Übrigens: Einen der Baltard-Pavillons hat man inzwischen im Westen der Stadt, in Nogent-sur-Marne, wieder aufgebaut.
Aber zurück zur Lust am Laster, das in diesem Viertel sich schon immer heimisch fühlen durfte. Davon künden bereits die Straßennamen. Schließlich gibt es eine Rue de la Grande-Truanderie, eine Straße der großen Gaunerei. Ganz in der Nähe, in der Rue de la Ferronnerie, starb 1610 der französische König Heinrich IV unter den Messerstichen des Schulmeisters François Ravaillac. Zwei Wochen später wurde der Mörder Ravaillac dafür gevierteilt. Und nicht weit entfernt findet man auch die Rue de l’Arbre-Sec, die Straße zum trockenen Baum. Kein verfrühter Hinweis auf das Waldsterben unserer Tage, sondern eine zarte Umschreibung für den Galgen, den man dort aufgebaut hatte. Ein stets mit großer Anteilnahme der Bevölkerung aufgenommenes Spektakel, das allerdings in eine Seitenstraße verbannt wurde, nachdem die Händler des Hallenviertels sich über den aufdringlichen Leichengeruch beklagt hatten.
Heute atmet das Viertel eher die exotischen Düfte der vielen Gewürzhändler, die sich vor allem in den kleinen überdachten Passagen niedergelassen haben. Und den zumeist griechischen Schnell-Imbiß-Buden mit ihrem am Spieß gedrehten Hammel-Hack, das irgendein Dimitri Angelopoulos scheibchenweise absäbelt und in eine halbe Weißbrotstange hineinpfercht, um es dann mit welken Salatblättern, Oliven und Tomaten zuzukleistern. McDonald auf mediterrane Art. Zehn oder zwölf Francs das Stück. Nebenan die tunesische Patisserie mit ihren klebrigen Kalorienbomben. Den Baklawas mit Pistazien oder Pinienkernen, den „Gazellenkörnern“ aus Mehl und Butter und Mandeln. Mit viel Honig und Zuckersirup und allesamt in triefendes Öl getaucht.
Es ist, als hätten die Vereinten Nationen hier ihre Großmarkthalle eingerichtet. Aber das Riche-Bourriche, in dem Lheureux seine Austern schlürfte, steht nicht mehr. Viele der kleinen Eckkneipen, in denen man vor 20 Jahren noch morgens um fünf seine Zwiebelsuppe schlürfen konnte, haben dichtgemacht.
Der Louvre steht natürlich noch. Drei Millionen Besucher zählt er im Jahr, fast zehntausend pro Tag. 224 Säle, 400000 Kunstwerke, vor allem die Mona Lisa und die Venus von Milo. Das sind die beiden Pflichtübungen. Im Innenhof des Louvre soll nun eine Glaspyramide errichtet werden. So hat sich das jedenfalls ein amerikanischer Architekt chinesischer Herkunft ausgedacht, und der französische Präsident hat sein Ja-Wort gegeben. Der Mona Lisa wird schon noch ihr Lachen vergehen.
In der langgestreckten Rue de Valois stoße ich sehr schnell auf das Hotel, in dem natürlich weder ein Albert an der Rezeption über Pferdewetten in Auteuil oder Vincennes nachgrübelt noch ein Monsieur Lheureux in der Gästeliste verzeichnet ist. Es ist ein Hotel der gehobenen Mittelklasse, dessen Preise der noblen Gegend rechtschaffen angepaßt sind, ohne als sündhaft teuer gelten zu können.
Schräg gegenüber hatte Eugène Robert-Houdin Mitte des vergangenen Jahrhunderts, der König der Magier, wie man ihn damals nannte, sein Theater eingerichtet. Er hatte sich die
Erkenntnisse der modernen Physik zunutze gemacht und sie in Zauberkunststücke eingebettet, die ihm - weit über die Grenzen von Paris hinaus — einen legendären Ruf eintrugen. Höchstes Entzücken rief zum Beispiel seine Galanummer von der schwebenden Jungfrau hervor. Ein Trick, der heute zum Standard-Repertoire der Zauberer zählt.
Aber wo vor etwas mehr als hundert Jahren noch illusionäres Theater gespielt wurde, da wird heute nüchterne Politik gemacht. Was nicht heißen muß, daß die kunstvollen Tricks der früheren Jahre in die Requisitenkammer verbannt worden
Weitere Kostenlose Bücher