Bilder von dir: Roman (German Edition)
Oneida Jones, die sonst an alles dachte, was es bedeutete, sterben zu müssen.
Und dieses Wissen überschwemmte sie mit Angst. Vereiste ihr Gehirn und sorgte dafür, dass ihr Herz eine Gänsehaut bekam, und jedes Mal, wenn sie sich bei der Vorstellung ertappte, wie es wäre, nicht zu sein, konnte Oneida keinen klaren Gedanken mehr fassen. Oder atmen. Oder sehen. Bis sie sich selbst so weit beruhigt hatte, bis sie über dem, was sie wusste und wünschte, sie wüsste es nicht, wieder den Vorhang fallen ließ, war sie nicht zu gebrauchen. Lenk mich ab , sagte sie sich und warf einen finsteren Blick auf Mr. Wasserman vorne im Klassenzimmer. Zeig mir ein Theorem. Gib mir einen logischen Beweis. Erklär ihn mir. Füll den Raum in meinem Gehirn, der sich ständig nur damit beschäftigt, wie es wäre nicht zu sein. Was es für ein Gefühl wäre zu gehen . Lenk mich ab , sagte sie sich, als sie Dani Drake dabei beobachtete, wie sie Origami-Frösche aus herausgerissenen Heftseiten faltete. Bring diese Frösche dazu, über dein Geschichtsbuch zu hüpfen. Katapultier einen von deinem Pult in Cassie Lowes Pferdeschwanz. Verdräng es für mich. Lass es mich vergessen. Erinnere mich daran, dass ich nichts dagegen tun kann und diese Angst sinnlos ist .
Weil sie nicht wissen konnte, wohin die Ewigkeit sie führen würde, blieb ihr keine andere Wahl als während Mathematik, während Biologie und während amerikanischer Geschichte zu grübeln – wobei Eugenes leeres Pult geradewegs ein Loch durch sie hindurchbrannte –, wohin sie heute gehen würde. Wohin sie sich begeben würde. Die Kontrolle über ihre beiden Füße lag bei ihr, bei ihr allein, für die Zeit, die ihr noch blieb. Und deshalb würde sie ihnen auch sagen, wohin sie gehen sollten, solange sie noch Wahlmöglichkeiten hatte.
Und derer gab es viele. Wohin zuerst? Wohin würde sie gehen, wenn sie, sagen wir, die neunte Stunde sausen ließ?
Die Antwort kam in Form eines Origami-Frosches. Er landete auf ihrem Schulheft wie ein lautloses Geschoss, abgefeuert über den Graben zwischen ihrem Pult und dem von Dani. Oneida blickte auf, aber Dani, die das Kinn auf eine Hand gestützt hatte und sich wie die anderen Notizen zum Unabhängigkeitskrieg machte, hatte ihren Blick auf Dreyer gerichtet.
Oneida nahm den Frosch in die Hand. SEZIER MICH , war in violettem Stift über seinen Rücken geschrieben. Sie entfaltete ihn.
Hab gehört, was passiert ist. Lu muss dafür bezahlen. Wir treffen uns in der neunten Stunde auf dem Requisitenboden. Ja, ich weiß, dass du dorthin gehst. Eine so tolle Geheimniskrämerin bist du nun auch wieder nicht. DD
Diese eine Nachricht enthielt viel zu viele schockierende Details, und Oneida hätte nicht sagen können, welches sie am meisten verblüffte. Wie hatte Dani das herausgefunden (über Eugene oder die Requisitenkammer)? Worüber sollte sie reden wollen? Hatte das Universum tatsächlich ihr Flehen vernommen und ihr die unwahrscheinlichste Ablenkung geschickt, die auf einer noch immer von den physikalischen Gesetzen beherrschten Welt möglich war? Und war sie zu Recht ein wenig erschrocken, als sie entdeckte, was Dani mit Lu muss dafür bezahlen meinte?
Amerikanische Geschichte war zu Ende. Die sich daran anschließende Stillbeschäftigungsstunde zog sich von einer Minute zur nächsten. Oneida war schon aufgestanden und aus dem Klassenzimmer, bevor das erste Klingelzeichen verstummt war, aber Dani, die aus einem Raum gekommen sein musste, der näher an der Aula lag, saß bereits auf dem Speicher und erwartete sie. Sie trug ein schwarzes T-Shirt, das in leuchtend weißen Lettern zu ROCK THE CASBAH aufforderte, dazu blaue Röhrenjeans, in denen ihre Beine wie Pfeifenreiniger aussahen. Sie saß auf einem der Sitzsäcke, auf denen Oneida und Wendy vor mehr als zwei Wochen gesessen und ihren Lunch gegessen hatten. Sie weinte.
»Es tut mir leid«, sagte sie, und ihr Atem flatterte. »Tut mir leid, ich muss mich nur rasch zusammenreißen – warte.«
Sie legte ihren Kopf in den Nacken und blinzelte heftig, dazu fuchtelte sie mit den Armen in der Luft. Oneidas Neugier und Unbehagen hielten sich die Waage, als sie sich auf dem anderen Sitzsack niederließ. Sie überlegte, ob sie Dani nicht in den Arm nehmen sollte, und sagte sich dann: Unfassbar, dass du das jetzt gedacht hast . Das war immerhin Dani Drake: die allwissende, angeberische, sarkastische, arrogante, garstige Dani Drake, schluchzend und – inmitten des Schluchzens – bemüht zu
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