Bilder von dir: Roman (German Edition)
schloss seine Lippen etwas mehr über seinen Zähnen und sagte zu seinem Spiegelbild: »Ich bin nicht Wendy.« Eugene war bereit, in die Schule zu gehen.
Aber es war Wendy, der an der Ruby Falls High aus dem Bus stieg. Bis zu diesem Augenblick hatte er sich nicht klargemacht, wie sehr er sich daran gewöhnt hatte, diese Rolle zu spielen. Sie war zu einer zweiten Haut geworden, in der er schlurfte und schwankte, Schlitzaugen machte, Grimassen zog und grinste, wenn eine Siebtklässlerin, die ihn anstarrte, nervös wegsah. Vielleicht gab es aber auch eine Art bizarren weiblichen Voodoo, sodass er zu Wendy wurde, wenn Oneida ihn für Wendy hielt und ihm nur die Gewalttätigkeit eines Cromagnonmenschen zutraute. Somit war es von noch größerer Wichtigkeit, dass sie ihre Meinung änderte.
Bis jetzt war es leicht gewesen, ihr aus dem Weg zu gehen. Sie hatten nur eine Handvoll Fächer gemeinsam: Sport in der zweiten Stunde, wo sie aber getrennt waren, weil die Mädchen Aerobic machten und die Jungs Gewichte stemmten, in der fünften Stunde Mittagessen und in der neunten und letzten Stunde amerikanische Geschichte. Dreyer hatte für die ganze Woche keine Gruppensitzungen während der Schulstunden anberaumt, weshalb es auch keinen Grund gab, miteinander zu sprechen oder einander anzuschauen. Die Chance, dass heute, am Mittwoch, Gruppenarbeit angesetzt wurde, war natürlich groß – und das bedeutete für Eugene, dass ihm acht Schulstunden, etwa sieben Stunden Zeit blieben, um sich auf eine tränenreiche Konfrontation vorzubereiten. Oder eine kalte Schulter. Oder ein Knie in der Leiste.
Erste Stunde: Werkunterricht. Eugene brachte die gesamten fünfzig Minuten damit zu, einen Holzblock zu schleifen und dessen Ecken mit dem Bandschleifer so lange zu bearbeiten, bis sie glatt und abgerundet waren, und sich dabei auszudenken, wie er sie ansprechen wollte. Sollte er ihren Namen sagen? Ihr einen Spitznamen geben? Oder es einfach mit einem klassischen Hi versuchen? Kurzzeitig befiel Eugene die Sorge, Oneida könnte ihn an Andrew Lu oder Dani verpfiffen haben, weil er das Treffen unter einem falschen Vorwand abgesagt hatte, überlegte dann aber, dass es ihr sicherlich viel zu peinlich gewesen wäre, das anzusprechen, was ihn zwar erleichterte, ihn aber als noch größeren Idioten dastehen ließ. Die zweite Stunde (Sport) verbrachte er mit einer Magenverstimmung, was ausnahmsweise einmal stimmte, im Krankenzimmer. In der vierten Stunde (Geometrie) dachte er ganz ernsthaft daran, den Rest der Stunden ausfallen zu lassen. Mittags würgte er ein halbes Stück Pizza hinunter und stierte in den restlichen Fächern die Wand an und versuchte an nichts zu denken. Als Eugene vor dem Klassenraum für die achte Stunde eintraf, war seine Angst so groß, dass er kaum blinzeln konnte.
Und dann läutete der Gong, und ihm blieb nichts anderes übrig, als sich auf den Weg in den Geschichtsunterricht zu machen. Er nahm seinen üblichen Platz ganz hinten im Klassenraum ein, unter einem laminierten Poster von der Unabhängigkeitserklärung. Dani trudelte als Erste ein, sie kaute so fest auf ihrem Kaugummi, dass ihre Wange krampfte. Oneida kam als Nächste, blasser und versponnener und schöner denn je. Eugenes Magen sackte nach unten wie eine Falltür.
Weil viele Schüler erst kurz vor dem Gong noch hastig hereindrängten, bemerkte er nicht, dass auch Andrew Lu darunter war – das heißt, er sah ihn erst, als er aus dem Augenwinkel jemanden entdeckte, der einen Akustikgitarrenkoffer zwischen den schmalen Pultreihen hindurchschleppte. Andrew stellte den Koffer – tiefschwarz, neu, nicht zu vergleichen mit dem schmuddeligen von Patricia, mit seinen Aufklebern und seltsamen Flecken – auf dem Boden ab, setzte sich und sah sich erwartungsvoll um. Er nahm Blickkontakt zu Oneida auf und zeigte ihr den aufgerichteten Daumen, und Oneida winkte etwas verzögert linkisch zurück.
Heiliger Bimbam.
Eugene hatte kaum Zeit wahrzunehmen, dass zwischen Oneida und Lu etwas lief, denn Dreyer schloss die Tür des Klassenzimmers und verkündete, sie würden die gesamte Unterrichtszeit in ihren Gruppen arbeiten.
»Ja«, sagte sie. »Weil ich gestern Abend was Besseres zu tun hatte, als die Unterrichtsstunde vorzubereiten.« Sie setzte sich an ihr Pult und begann die Namen zu verlesen.
Mist, sagte sich Eugene. Mist, Mist, Mist. Es bestand also durchaus die Chance, dass Andrew Lu bereits wusste, was er getan hatte, Oneida zu ihm gerannt war und ihn verraten
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