Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
lang…
Die Neumondnacht war warm, der Himmel wolkenlos. Thierry konnte sich nicht erinnern, die Milchstraße je zuvor so prächtig und so deutlich in all ihren Details gesehen zu haben. Eine sanfte Brise, der von fern heranwehende Geruch der Pinien und Eukalyp-tusbäume, das anhaltende Zirpen der Grillen, die Allgegenwart des Kosmos – er musste innehalten und gegen eine Art von Schwäche ankämpfen. Was hatte er hier eigentlich zu suchen? All diese an den Computern und sonstigen Apparaten verbrachten Stunden, dieses ganze Spiel mit Worten und Bildern und Begriffen – wozu war das eigentlich gut? Selbst jetzt drückte er sein Notebook an sich, als wäre es ein Teil seiner selbst. Er hätte es nirgends unbesorgt liegen lassen können.
Er umrundete das alte Kloster, schritt vorsichtig die ungleichmä-
ßigen Steinstufen der großen Terrasse hinunter und spazierte durch den Olivenhain. Das helle Funkeln der Sterne reichte völlig zur Beleuchtung aus. Hie und da verfloss das Licht der schwachen Lam-pen, mit denen die Grenze des Geländes des Heiligtums abgesteckt war, mit dem Leuchten der Gestirne. Er setzte sich auf den Rand eines Brunnenbeckens mit einem langen bronzenen Ausflussrohr, das in ein weit aufgesperrtes Löwenmaul mündete. Das leise Plätschern des Wassers in dem mit Moos bewachsenen Becken hätte ihn eigentlich beruhigen müssen. Und doch …
Bevor er sein Büro verlassen hatte, hatte er sich ein zweites Mal 428
die Veranstaltung in Manchester angeschaut. Er wusste nun, dass D'Altamiranda seine Kraft hauptsächlich aus seiner absoluten Überzeugung zog, dass er die Wahrheit verkündete. Er hatte unbestreitbar Recht, gegen alle, die sich seiner Lehre widersetzten. Wenn er bewusst gelogen hätte, wäre das Pinocchio nicht verborgen geblieben. Aber El Guía Supremo war insofern vor der Lüge gefeit, als er die Kraft hatte, die Realität zu verändern, indem er die Dinge anders darstellte, als sie wirklich waren. Er log nicht: Er fabrizierte sich vielmehr seine eigene Wahrheit, während er sprach.
Thierry hatte in den Computer nur einen kurzen Ausschnitt dieser Vierten Offenbarung eingegeben. Dennoch war er überzeugt davon, dass das Ergebnis nicht anders gewesen wäre, wenn er sie vollständig dieser Überprüfung unterzogen hätte. Andererseits handelte es sich hier nur um eine Aneinanderreihung von mystisch-religiösen Beteuerungen, die sich, wie ein jedes Glaubensbekenntnis, zu einem Teil der Unterscheidung zwischen wahr und unwahr entzogen.
Was wäre, wenn man D'Altamiranda befragen würde nach den von ihm missbrauchten Kindern? Oder ihn einzeln jedem von diesen gegenüberstellte? (Lydia zufolge hatte Casus Belli eine Liste von siebzehn Mädchen zwischen zehn und vierzehn und von neun Jungen zwischen sechs und elf zusammengestellt; alle, ohne Ausnahme, waren El Guía zur ›Einweihung‹ von den Eltern oder zumindest einem Elternteil zugeführt worden. Würde sich auch auf diesem Gebiet Pinocchio als unfähig erweisen, den heiligen Propheten zu überführen?
Gestern noch hätte Thierry diese Frage ohne jedes Zögern beantwortet. Heute war er sich dessen nicht mehr so sicher. Andererseits war er inzwischen einer anderen Sache sehr sicher: Jeder Versuch, die Ausstrahlung dieser Fünften Offenbarung zu verhindern, würde sich als Fehlschlag erweisen. Die Mirandisten waren inzwischen zu Meistern in der Kunst geworden, jeden Angriff ihrer Feinde zu ihren Gunsten zu nutzen. Unter anderem wies der verstärkte Nach-429
richtenaustausch mit den regionalen Leitern der Vereinigungskirche darauf hin, dass man bereits eine Gegeninitiative vorbereitete.
»Vielleicht haben sie sogar schon vorsorglich ein Video von dieser berühmten Offenbarung hergestellt«, überlegte er. »Das können sie dann vor Ort einsetzen, falls die Satellitenübertragung gestört wird.
Ich würde das jedenfalls an ihrer Stelle so handhaben!«
War das die Erschöpfung? Er fühlte, wie er immer mutloser wurde. Woher konnte er neue Energie gewinnen, um den Kampf fortzusetzen? Er hatte sich da offenbar auf eine Auseinandersetzung mit einem Gegner eingelassen, dem er nicht gewachsen war, bei weitem nicht! Er war allein hier, waffenlos, verwundbar. Gab es diesen angeblichen Agenten von Casus Belli hier überhaupt? Er hatte da so seine Zweifel! Wieso hatte er überhaupt diesen verrückten Auftrag angenommen? Ein Anruf von Kiersten, und er war sofort ins nächste Flugzeug gesprungen und nach Paris geflogen. Wenn sie ihm wenigstens
Weitere Kostenlose Bücher