Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
könnten, und schon gar nicht davon, wie weit sie gehen würden, um es zu bekommen. Und sie zweifelte kaum noch daran – ach was: Sie war sich schon sicher! –, dass sie sich weder durch Skrupel noch durch Mitleid davon würden abhalten lassen. Und auch, dass sie nicht zulassen würden, dass sich Gabriella an ihrer Stelle bereit er-klären würde zu diesen Dingen … Ja, was für Dingen denn nun wohl tatsächlich?
Sie musste sich in die Fäuste beißen, um nicht loszuschreien.
Drei Stunden waren vergangen. Jede Minute davon war voll gewesen von unsäglicher Furcht vor dem Ungewissen. Nichts konnte schlimmer sein als diese Ungewissheit. Dragos und der Geweihte hatten mit Hilfe einer großen Leiter eine Kamera an den Eisenträ-
gern unter dem Dach aufgehängt, deren Objektiv nach unten gerichtet war. Außerdem hatten sie dort ein gutes halbes Dutzend Rollenblöcke befestigt, um dann daran an Seilen zwei Trapeze hochzuziehen und an Ketten bis auf etwa fünf Meter über dem Boden eine Art Gondel, bestehend aus einem Gitterwerk starker Eisenstäbe und dickem Maschendraht. Die Ketten waren dann am anderen Ende an einem Pfeiler der Lagerhalle verankert worden, und mit dicken Klemmen hatte man Leitungskabel daran befestigt.
Auf dem Boden standen drei nagelneue Anlasserbatterien für Last-436
wagen.
»Man könnte denken, man sei im Zirkus«, fand Sandrine verblüfft. »Das macht doch alles keinen Sinn! Die werden uns doch nicht dort hinaufklettern lassen!«
Aber nein, sie musste sich von Anfang an getäuscht haben. Diese geheimnisvollen Vorbereitungen galten gar nicht ihnen, das war offenkundig. Das alles würde sich auf die allereinfachste Weise von allein erklären, und sie hatte sich die ganze Zeit über völlig unnötig geängstigt.
Während sie sich noch so zu beruhigen suchte, schleiften die fünf Männer gemeinsam eine riesige Egge herein. Sie legten sie, mit den drohenden Spitzen nach oben, direkt unter die von der Decke hängende Ausrüstung für eine Trapeznummer – ein jeglicher Vernunft widersprechendes furchtbares Fangnetz.
In der hereinbrechenden Dämmerung verließen die fünf die Halle wieder.
Sandrine lauschte. Die Stille hatte nichts Beruhigendes an sich, ganz im Gegenteil.
»Gabriella?« Der Klang ihrer eigenen Stimme ließ sie zusammen-fahren. Sie wiederholte, etwas leiser: »Gabriella? So antworte doch!«
Sie schaute angestrengt in die Richtung, in der sie die Freundin hatte verschwinden sehen. Dann ein Rascheln hinter ihr, sie drehte sich um: Da stand Gabriella, und auf ihren Wangen glitzerte es.
»Warum weinst du?«
»Ci far anno del male! Anche a te!« – Sie werden uns Böses antun, auch dir!
»Was? Ich verstehe kein Wort. Weißt du denn, was das alles bedeuten soll?«
»Attenzione, tornano!« – Achtung, sie kommen zurück!
Die Kleine versteckte sich wieder; diesmal noch rascher als vor-437
her.
Sandrine verbarg sich ebenfalls wieder in ihrem Versteck, dachte dann aber nach endlos scheinendem Warten: »Diesmal hat sie sich offenbar getäuscht.« Ihr Herz klopfte so stark, dass es schmerzte.
Sie wollte sich gerade wieder aufrichten, fand dazu aber keine Zeit mehr. Genau in diesem Augenblick öffnete sich die Tür zur Lagerhalle erneut. Die Männer kamen wieder und schoben eine große, aufwändige Kamera auf einem kleinen Wagen mit großen Rädern herein. Der Geweihte trennte sich von ihnen und ging geradewegs auf den Kistenstapel zu, hinter dem sich Sandrine versteckt hatte.
Er machte ihr ein Zeichen, aufzustehen und ihm zu folgen. Sie kauerte sich zusammen und schüttelte entsetzt den Kopf.
»Du hast keine Wahl. Du machst, was ich dir sage. Los jetzt!«, sagte er auf Englisch. Er machte einen Schritt auf sie zu, sein völlig haarloses Gesicht verriet weder Ungeduld noch Ärger. Es schien ihm sogar gleich zu sein, ob sie ihm nun gehorchte oder nicht. Sie erhob sich und schlüpfte an ihm vorbei, um eine Berührung mit ihm zu vermeiden. Er geleitete sie nach vorn in die Halle, wo jetzt die Scheinwerfer eingeschaltet wurden. Wie gelang es ihr überhaupt, auf ihren derart wackeligen Beinen zu stehen?
Sie bemerkte als Erstes, dass eines der beiden Trapeze auf weniger als zwei Meter über dem Boden heruntergelassen war, während das andere in unerreichbarer Höhe schwebte. Der Mann mit der kleinen Brille stieg von dem Kamerawagen herunter, als er sie heran-kommen sah. Er verneigte sich vor ihr in orientalischer Art, eine Hand auf die Brust gelegt. Dann betrachtetet er sie
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