Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
unterlaufen keine ›Fehler‹, allenfalls Irrtümer. Und bevor du mir welche nachweist, musst du noch viel lernen und dich besser um deine eigenen kümmern. Du glaubst zum Beispiel bestimmt, eure Festung hier sei uneinnehmbar, nicht wahr?
Komm, ich will dir mal zwei oder drei Lücken in eurer Umwallung zeigen.«
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Sie blieben gemeinsam für eine gute Stunde vor dem Monitor sitzen. Thierry kannte die Konfiguration des Systems recht gut; er hatte sie dank des von Jean-Louis Becker mitgeteilten Zugangscodes in Paris ausführlich studieren können. Die Hauptschwierigkeit war gewesen, die Spuren seines Eindringens und seiner wenig orthodoxen Eingriffe zu verwischen.
Er hatte noch gezögert, Pondichéry einige seiner Geheimnisse zu verraten, denn zweifellos würde dadurch die Sicherheit des Netzes der Vereinigungskirche verbessert. Aber es schien ihm ein kalkulier-bares Risiko. Jetzt musste er Punkte machen, sich als unschlagbarer Fachmann erweisen, das Vertrauen des Geweihten gewinnen – oder wenigstens seinen Respekt.
Das war keine leichte Aufgabe, denn der junge Inder war tatsächlich ein Informatiker hohen Ranges. Er hatte eine einzige Achil-lesferse: seine fanatische Verehrung für El Guía. Seine Furcht, aufgrund seines Versagens könnte es den Feinden der Wahrheit gelingen, die weltweite Verbreitung der Fünften Offenbarung zu verhindern, hatte ihn in tiefe Verzweiflung gestürzt. Das war sein schwacher Punkt, und Michel Delanoy zögerte keinen Augenblick, diese Schwäche auszunützen – ohne jeden Skrupel.
Es war zwei Uhr morgens, und noch immer hielten sich fünf Geweihte hier im Obergeschoss auf. Einer von ihnen, abgestellt zur Überwachung des ›Zeugen‹, schien es darauf anzulegen, Jasmines Worte zu bestätigen, dass es Heimlichkeiten im Heiligtum nicht gebe. Er saß auf einem hohen Hocker, nur drei Meter von der Glaswand entfernt, und ließ, den Hals hochgereckt, Thierry nicht für einen Augenblick aus den Augen. Dieser hatte zunächst gute Lust gehabt, Argos rufen zu lassen und ihn in seine Schranken zu verweisen. Dann jedoch hatte er rasch begriffen, dass diese Parodie einer Überwachung ihm weit eher die Gelegenheit bot, sich zu ent-426
spannen. Denn diese Aufsicht durch einen frisch geschorenen offensichtlichen Grünschnabel hatte auch etwas unfreiwillig Komisches an sich, und es war unverkennbar, dass hier ein recht bescheidener Geist seinen Auftrag, ›diesen Herrn da gut im Auge zu behalten‹, sehr wörtlich nahm.
Thierry hatte ein wenig früher ein Abspielgerät mit einem Monitor angefordert und eine Kopie des Videos mit der Vierten Offenbarung, die vor achtzehn Monaten im englischen Manchester vor dreißigtausend Mirandisten verkündet worden war. Beim ersten Mal schaute er sich die Aufzeichnung mit einem Kopfhörer über den Ohren an. Er hatte D'Altamiranda zwar schon in kurzen Mitschnit-ten bei Nachrichtensendungen gesehen, aber niemals einen vollständigen Film von einer solchen Großen Versammlung. »Halluzi-nierend!«, fand er, und ein beklemmendes Gefühl beschlich ihn.
»Wenn man ihn gehört hat, hat man wirklich nur noch die Wünsche: ihm zu glauben, ihm zu folgen, sich mit Leib und Seele hinzugeben und sich ihm anzuschließen im Universellen Bewusstsein.«
Er wählte dann eine etwa fünfminütige Sequenz aus, in der El Guía Supremo einige ›unbestreitbare Wahrheiten‹ verkündete, bei denen er sich auf Allgemeinplätze und Binsenweisheiten stützte.
Der Redner verfälschte dabei ganz offensichtlich bestimmte Tatsachen, um die Forderungen seiner Lehre vom Verzicht zu begründen.
Diesen Auszug gab er dann in digitalisierter Form in den Computer ein. Nun musste nur noch Pinocchio seine Nase in diese Version stecken, und dann würde man ja sehen, was wahr und was falsch daran war. »Zu schade, dass ich das nicht den Leuten hier im Heiligtum vorspielen kann! Es würde ihnen gut tun, ihren großen Guru als Märchenerzähler zu erleben.«
Kurze Zeit verging, in der das leistungsfähige Programm, dessen Vorführung die Spitzen der GRC so außer Fassung gebracht hatte, ablief und die Rede des Patriarchen sezierte: sein Atmen, die Länge 427
der Pausen, die Schwankungen der Stimme, die Wimpernschläge und selbst das unmerklichste Zucken der Gesichtsmuskeln.
Diesmal war es an dem Pseudo-Delanoy, vor Verblüffung starr vor dem Bildschirm zu sitzen.
Denn das Urteil Pinocchios war eindeutig, und es lautete, dass Miguel D'Altamiranda nicht gelogen habe! Auch nicht eine Sekunde
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