Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
Patschuli-duft zur Kugel zusammengerollt auf der Seite, die geballten Fäuste vor der Stirn. Sie hatten sich weiße T-Shirts aus gestepptem Baum-wollstoff mit dem Emblem der Odysseus aus der Kommode geholt.
Auch aus dem reichen Angebot von Shorts in allen Größen hätten sie sich bedienen können. Sie hatten sich jedoch für die zu großen Hosen entschieden, die man ihnen in Mgarr gegeben hatte. Trugen sie denn nicht mit der Hanfkordel statt eines Gürtels und den Fli-cken auf den Knien genau die neueste Jugendmode?
Kiersten setzte sich auf das Bett und legte ihre Hand leicht gegen den Hals ihrer Tochter. Sie spürte das Blut im Körper dieser jungen Frau pochen, die sie heute zum ersten Mal zu sehen schien. Sie schloss die Augen unter dem Ansturm ihrer Gefühle, die so gänzlich anders waren als das, was sie erwartet hatte: tiefe Freude, ursprünglich und rein; aufsteigender Jubel; höchstes Glück – all das löste den Wunsch in ihr aus, das Gesicht zum Himmel zu erheben und zu weinen.
Lydia stand am Bug des Schiffes und gab sich mit geschlossenen 460
Augen und bebenden Lippen der Liebkosung des Windes hin. Kiersten hatte sich wieder zu ihr gesellt und berichtete ihr, die Arme auf die Reling gestützt, über die Wirkung, die das so opulent ausgestattete Badezimmer auf die beiden Mädchen gehabt hatte. Da sie keine Antwort erhielt, schwieg auch sie und schloss ebenfalls die Augen. (Wenn man sich dem Schwanken des Schiffes einfach hin-gab, wurde es zum sanften Wiegen.) Sie stellte beglückt fest, dass der Jubel in ihrem Herzen anhielt, wovon sie sich bei jedem neuen Hineinhorchen überzeugen konnte.
»Was Bugeaud betrifft…«, sagte sie schließlich. »Vergiss bitte meine Reaktion vorhin. Ich war nicht mehr ich selbst… Oder richtiger: Ich war genau wieder ich selbst, schrecklich, wie immer! Höchste Zeit, dass sich das ändert!«
»Mein Timing ist auch nicht immer das beste …«
»Ich habe mal wieder nur an mich gedacht. Ganz, als wollte ich nicht sehen, was ich Thierry alles schulde. Dabei hat er sich mit vollem Risiko mitten in die Höhle des Löwen begeben … Doch jetzt sag mal offen: Interessiert er dich?«
Lydias Augen begannen zu glitzern, und sie nickte mit dem Kopf.
Kiersten beobachtete sie aus den Augenwinkeln und dachte: »Diesbezüglich sind wir nun wirklich so gegensätzlich, wie man es sich konträrer nicht vorstellen könnte. Sie will nichts lieber, als ›die Sache bereden‹, und bitte mit allen knisternden Details! Was mich dagegen im Hinblick auf delikate Dinge betrifft… Da war ich stets prüde wie die Königin Victoria. Selbst gegenüber Teddybär war ich die Meisterin der Umschreibungen. Da wäre wohl selbst Sandrine mutiger!«
Sie entschloss sich, den Stier bei den Hörnern zu packen.
»Deine Anspielung wegen Thierry war sicher nicht unbeabsichtigt, oder? Ich nehme mal an, dass er mit dir über mich gesprochen hat … Oder, genauer gesagt, über uns!«
»Ich hätte schon gewollt, ma no! Die große Diskretion, als Zugabe 461
zu allem sonstigen, stell dir vor! Ehe wir uns trennten, hat er dann immerhin was gesagt. Ich habe das so verstanden, dass er sich schon gern trauen würde, aber nicht ohne deine Erlaubnis. Habe ich mir da vielleicht was eingebildet?«
Warum nur fühlte sich Kiersten weder verlegen noch in die De-fensive gedrängt? Ihr Erstaunen wuchs noch, als sie feststellte, dass diese Diskussion ihr sogar Spaß machte – und erreichte einen Hö-
hepunkt, als sie ein verdächtiges Kribbeln in ihrem Jochbein verspürte. Was war mit ihr los? Konnte das die verspätete Wirkung des Champagners sein?
»Nein, du hast Recht. Die ideale Frau für ihn ist eine wirklich beherrschende Frau, in jedem Sinne des Wortes.«
Lydia wischte sich mit einem Finger eine Strähne aus dem Gesicht, die ihr der Wind immer wieder hineinblies, wie um ihr einen Anstrich des Rebellischen zusätzlich zum Schalkhaften und fast etwas Biestigen zu verleihen.
»Das blieb mir von der ersten Minute unserer Bekanntschaft an nicht verborgen. Was glaubt du wohl, warum er mir gefällt? Aber wo ist mein Platz in dieser Geschichte? Wenn er dir gehört …«
»Und wie er mir gehört!«, entgegnete Kiersten energisch. »Wenn es dir so wichtig ist, ihn zu haben, dann mach mir ein Angebot!«
Die Italienerin runzelte die Brauen und schien sich zu fragen, ob sie wohl richtig gehört haben könne. »Ich bin dabei, sie auf ihrem eigenen Boden zu schlagen«, dachte Kiersten voller Behagen. Und die Vorstellung,
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