Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
mit dem behandelnden Arzt sprechen; nein, der Herr Professor ist im Augenblick nicht zu erreichen.«
Selbstverständlich telefonierte sie auch regelmäßig mit der Botschaft. Le Bouyonnec antwortete ihr stets mit unerschütterlicher Geduld; und wenn sie eine Nachricht hinterließ, rief er auch zuverlässig zurück. Aber auch dann konnte er ihr immer nur sagen, es gebe nichts Neues. Jedes Mal suchte sie sich, nachdem sie aufgelegt hatte, ein stilles Plätzchen, um dort ein vertrauliches Gespräch zu führen mit ›Man-weiß-schon-wem‹.
Aus der Bretagne nach Paris zurückgekehrt, begab sich Laurence zunächst in die Rue Saint-Grégoire-de-Tours, um sich ein bisschen frisch zu machen, bevor sie in die Klinik fuhr.
465
Kiersten hatte ihr Zimmer im ›Grand Hôtel de l'Univers‹ behalten und die meisten ihrer Sachen dort gelassen. Mitgenommen hatte sie außer etwas Wäsche und Kleidung zum Wechseln nur ihr Notebook. Sie hatte Laurence vorgeschlagen, während ihrer Abwesenheit das Zimmer zu benutzen: »Sagen Sie bloß nicht, Sie wollten allein in diesem Museum bleiben! Das ist doch wirklich zu bedrückend, besonders nach dem, was sich dort mit Becker abgespielt hat. Und es gibt noch nicht einmal ein Telefon!« Am Empfang lag eine Nachricht Kierstens: Sie entschuldigte sich bei Laurence wegen der in Eile hinterlassenen Unordnung.
Laurence stieg in den dritten Stock hinauf und trat in das Zimmer. Das Zimmermädchen hatte zwar das Bett gemacht und das Bad gesäubert, sich um die anderen Dinge aber nicht weiter gekümmert. Ein Koffer stand mit aufgeklapptem Deckel vor der Heizung auf dem Boden, sein Inhalt war bunt durcheinander gewürfelt. Die jüngsten Einkäufe in Paris lagen oder hingen noch auf der Kommode und der Sessellehne.
Diese Unordnung gefiel Laurence regelrecht. War das nicht eine Art von Einladung? Sie öffnete den Kleiderschrank und die Schub-fächer; dann räumte sie ohne Hast, aber zielsicher und zügig, Kierstens Sachen ein.
Anschließend duschte sie. Als sie aus dem Bad kam, hatte sie das seltsame Gefühl, jemand anders hätte hier aufgeräumt. Und dann überkam sie ein verrückter Einfall, ein unwiderstehlicher Wunsch, der so gar nicht ihrer sonstigen Skrupelhaftigkeit entsprach. Sie gab sich ihm ohne weiteres Widerstreben hin und begann sich anzukleiden – mit Kierstens Sachen! Sie bediente sich an deren Wäsche und schlüpfte dann in einen Seidenpullunder und ein maulwurfgraues, tailliertes Kostüm, dessen Rock sie mit Sicherheitsnadeln ihrer Figur anpasste. Dann legte sie die Bernsteinkette und die dazu passenden Ohrringe an, die Kiersten bei ihrer ersten Begegnung getragen hatte.
Als sie das Hotel verließ, um sich am Boulevard Saint-Germain 466
ein Taxi zu nehmen, hatte sie den Eindruck, dass man sich nach ihr umdrehe. Ihr Herz schlug schnell und kräftig. Sie erkannte rasch, dass sie es unterlassen müsse, nachzudenken; dass es besser sei, sich vom Lauf der Dinge treiben zu lassen; dass sie, ohne recht zu wissen wie und warum, Teil eines geheimnisvollen Rituals sei.
Auf dem Weg nach Neuilly schloss sie für einen Moment die Augen. Irgendwoher schoss ihr der Begriff ›aus der Verpuppung schlüpfen‹ durch den Kopf. Er schien ihr sehr passend – aber wofür eigentlich?
In der Eingangshalle der Klinik kam sie an einem großen Spiegel vorbei und blieb fasziniert stehen. Es war nicht so sehr das, was sie da vor sich sah, was sie so verblüffte, sondern vielmehr die erregende Feststel ung, dass sie sich selbst erkannte! Es war Schwindel erregend widersinnig! Ausgerechnet in diesen Sachen, die ihr gar nicht gehörten, ergriff sie endlich wieder Besitz von ihrem Körper, empfand sie sich wieder als sie selbst –, erstmals seit so vielen Jahren … Sie lä-
chelte sich unter Tränen zu: Tatsächlich, die Person, die sie da sah, fand sie sehr sympathisch.
Das blieb jedoch nicht die einzige Überraschung für sie. Nachdem sie die Eingangshalle durchquert hatte, sah sie in dem anschließenden großen Aufenthaltsraum, in einen scharlachroten Morgenrock mit breitem schwarzen Besatz an der Knopfleiste und den Ärmelstulpen gehüllt, Fjodor Gregorowitsch sitzen. Dass er sein Bewusstsein wiedererlangt hatte und nun hier wie ein Zarendar-steller in einem Vorstadttheater auf einer abgewetzten Ottomane thronte, war ja schon erstaunlich genug. Dass er aber von fünf oder sechs Damen umgeben war, die wie gebannt an seinen Lippen hingen, kam ihr wie ein Auswuchs wilder Fantasien vor.
Er unterbrach
Weitere Kostenlose Bücher