Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
wehte von Steuerbord, erfüllt von Jodgeruch und Gischt.
»Come va?«
»Es geht so. Ich habe das Gefühl, dass sämtliche Muskeln meines Körpers sich nach und nach entkrampfen. Und ich muss mich echt anstrengen, um zu begreifen, dass wirklich alles vorbei ist. Ich möch-te damit sagen …«
»Lass gut sein, ich habe das schon verstanden. Deine Tochter wird schneller wieder auf den Beinen sein als du selbst, davon bin ich überzeugt.«
»Das würde mich kein bisschen wundern. Den Appetit hat es ihr jedenfalls nicht verschlagen, vom Champagner gar nicht zu reden!
Aber dein kleiner Schützling war auch nicht gerade appetitlos …
Wie die sich den Bauch voll geschlagen haben!«
Einen bestimmte Unruhe quälte sie seit kurzem und erfüllte sie zugleich mit einer gewissen Scham. Gegen Ende der Mahlzeit hatte 455
Sandrine aus Ungeschicklichkeit ihr Glas umgestoßen, als man gerade einen Trinkspruch auf ihre Befreiung loslassen wollte. Da hatte ihr Gabriella ihr Glas zugeschoben, aus dem sie schon getrunken hatte.
»Was die Kleine betrifft… Ihr werdet euch doch wieder um ihre Behandlung kümmern. In ihrem Zustand sollte man nicht…« Da ihre Gesprächspartnerin sie fragend anblickte, setzte sie verlegen hinzu: »Ich meine, wenn sie positiv ist, muss man doch sicher…«
»Santo cielo!«, rief Lydia mit unbekümmertem, freiem Lachen.
»Aber nein! Ich habe das in der Laune des Augenblicks frei erfunden! Einfach, um diesen Becker in Wut zu bringen. Wenn ich an sein Gesicht denke, als er glauben musste, sein verehrter Guru …
Noch einen Schluck?«
Sie hatte die Kognakflasche entkorkt und hielt sie über Kierstens Glas.
»Nein, danke! Vielleicht später… Jetzt erzähl doch erst mal!«
»Zunächst einmal muss man sagen, dass wir nur um einen Stoppel an einer Katastrophe vorbeigeschlittert sind.«
»Um ein Haar, meinst du …«
»Meinetwegen! Stoppel gefällt mir einfach als Ausdruck …«
Die Operation war für die Nacht von Freitag auf Samstag vorgesehen gewesen, also einige Stunden vor der geplanten Großen Versammlung. Um das Risiko eines Fehlschlags so gering wie möglich zu halten, hatte sich Casus Belli dazu entschlossen, die maltesi-schen Behörden nicht zu informieren. Eine in Rom zusammenge-stellte Kommandoeinheit sollte die Befreiung der Geiseln ohne Blutvergießen bewerkstelligen. Die beiden ersten Mitglieder der Gruppe waren schon Anfang der Woche eingetroffen, die übrigen sechs sollten ihnen auf verschiedenen Reisewegen und in unterschiedlichen Verkehrsmitteln folgen, um keinen Verdacht zu erregen.
Im letzten Augenblick hatte Jasmine Wind bekommen von der 456
Ankunft der ›türkischen Spezialisten‹. Ihr zufolge hatte Argos die Abwesenheit Beckers dazu genutzt, seinen eigenen Einfluss bei El Guía zu verstärken. Er hatte eine Reihe von Maßnahmen in die Wege geleitet, von denen er wusste, dass sie von seinem Rivalen missbilligt würden. So hatte er zum Beispiel stets die möglichst um-gehende ›Verwandlung‹ Gabriellas befürwortet, wobei dieser beschö-
nigende Begriff für nicht weniger stand als ihre grauenvolle Tötung vor den Augen einer laufenden Kamera. Jean-Louis dagegen hatte von vornherein darauf gesetzt, dass die kleine Italienerin am Leben bleibe, um für ein Tauschgeschäft mit Casus Belli zur Verfügung zu stehen. Er hatte in diesem Punkt D'Altamiranda auf seine Seite ziehen können mit dem Vorbehalt, dass die kleine Italienerin den Leuten aus Istanbul übergeben würde, sobald sie sich als Tauschgegen-stand als wertlos erweisen würde. Für Sandrine galten die gleichen Überlegungen.
Was hatte nun Argos veranlasst, ohne weiteren Aufschub die um-gehende Beseitigung der beiden Geiseln zu betreiben? Und wie war es ihm gelungen, dafür El Guías Zustimmung zu erreichen? Jasmine hatte es nicht in Erfahrung bringen können. Sie war von der Weisung überrascht worden, sich nicht länger um die beiden Mädchen zu kümmern. Von nun an würde ein Geweihter zu ihrer Dauerüberwachung abgestellt, hatte man ihr mitgeteilt. Immerhin hatte sie in Erfahrung bringen können, dass wichtige Besucher am folgenden Abend in Xaghra erwartet würden.
Lydia, umgehend alarmiert, hatte sich zu einer Blitzoperation mit den nun einmal vorhandenen Mitteln entschließen müssen. Einen Aufschub von ein paar Stunden hatte sie dadurch erreichen können, dass eine Verzögerung der Ankunft des Flugzeugs möglich war, welches den dritten ›Darsteller‹ des Snuffs heranschaffen sollte.
»Sandrine hat
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