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Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt

Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt

Titel: Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fuenfte Offenbarung
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doch wirklich wissen. Warum bittest du mich dann darum?«
    »Weil ich sterben werde.«
    Sie musterte ihn bestürzt. Gut, er sah ja wirklich schlecht aus mit seinem wachsbleichen Gesicht und den zitternden Händen. Aber diese Melodramatik, das war denn doch verfrüht! In den Kerkern von Maghrabi hatte sie zuhauf erlebt, wie das Leben sich noch viele Tage, viele Wochen lang an Unglückliche klammerte, die in einem viel schlechteren Zustand waren als er jetzt.
    »Ich hatte als Kind Asthmaanfälle«, sagte er tonlos. »Meine Mutter hat mich immer so gut gepflegt! Ich verlor sie, als ich sechs war… Ich sage das jetzt nicht, um dein Mitleid zu wecken, auch wenn du das jetzt vielleicht glauben magst. Sie versteckte die Tabletten, die ich nehmen musste, immer in Schokoladetrüffeln – ein kleiner Trick, damit ich sie schluckte.«
    Ihre Beine gaben nach, und sie setzte sich rasch.
    »Was hast du genommen?«
    »Das ist unwichtig. Wenn sich die Gelatineschicht erst einmal aufgelöst hat… Sag deinem Fjodor Gregorowitsch, ich ließe ihm danken für ein paar Minuten Aufschub. Tun kannst du jetzt nichts mehr; es wirkt blitzartig. Auf den Ruf der Schwarzen Garde kann 482

    man sich verlassen! Hättest du übrigens etwas unternommen, wenn du gekonnt hättest?«
    »Ohne jedes Zögern!«
    »Obwohl du wusstest, was ich getan habe?«
    »Gerade wegen dem, was du getan hast! Wenn ich dich noch retten könnte, würde ich es sofort tun – nicht aus Mitleid, sondern aus Hass! Deine Strafe ist es, zu leben! Dein Tod ist keine Buße, er ist eine Flucht! Du verdienst sie nicht!«
    Er blickte sie voller Verblüffung an:
    »Aus Hass, du? Du bist seiner fähig?«
    »Ja, ich habe es gelernt! Gott sei Dank!«
    Er griff nach ihrer Hand, wie um sie herauszufordern. Seine Finger waren eisig, über sein kalkweißes Gesicht lief der Schweiß. Laurence durchfuhr der Verdacht, dass dieses angeblich ›blitzartig wirkende‹ Gift nur eine Finte war. »Er hat mich drangekriegt – wieder einmal!« Aber ihre Hand entzog sie ihm nicht…
    »Du vergibst mir also nicht…«
    »Nein, dafür musst du dich anderswohin wenden. Auf Erden wirst du keine Vergebung finden.«
    »Wie kannst du nur so hart sein! Wer bist du denn, um mir zu sagen …«
    »Wer ich bin?«, murmelte sie, während sie einen Schwächeanfall nahen fühlte. »Ich bin die Stimme all deiner Opfer!«
    Hatte er sie noch gehört? Seine Augen waren starr, seine Hand leblos. Kein Aufbäumen, kein Röcheln.
    Sie sprang auf, doch es schwindelte ihr, und sie musste sich an der Banklehne festhalten, um nicht umzufallen. Plötzlich durchzog über den Baumwipfeln ein Riss den blauen Himmel, der sich mit der Geschwindigkeit einer Rakete bis zum Zenit verlängerte. Der Spalt erweiterte sich und zeigte auf seinem Grund ein schwarzes, mit Sternen besetztes Firmament.
    Sie schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war die Er-483

    scheinung verschwunden.
    »Das war die Letzte, weitere wird es nicht mehr geben«, sagte sie sich, ohne zu wissen, woher sie die Gewissheit darüber bezog. Sie warf einen letzten Blick auf Jean-Louis und ging langsam zum Haus zurück.
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    25. KAPITEL
    chweißnass und träge erwachte Laurence aus ihrem Mittagsschläf-Schen. Der Raum, in dem sie sich befand, erschien ihr nun in einem ganz anderen Licht. Sie fühlte sich aufgeregt wie ein kleines Mädchen, das durch die Berührung eines Zauberstabs in ein Märchenschloss versetzt wurde. Noch gestern hatte die Vorstellung, bei den Bugliones zu wohnen, nicht die geringste Begeisterung bei ihr ausgelöst; sie wäre viel lieber in einem Hotel abgestiegen. »Warten Sie erst einmal ab!«, hatte Kiersten gesagt. »Sie werden sich dort alles andere als eingeengt fühlen.« Wie hatte die Freundin nur ihre Abneigung gegen enge Zimmer, fensterlose Räume, dunkle Korri-dore erahnt?
    Zur Klaustrophobie freilich gab das ehemalige Palais der Orsini keinen Anlass: Ihr Zimmer war geräumig und luftig, mit einer sehr hohen Decke und einer zweiflügeligen Fenstertür, die auf eine um-laufende Galerie führte. Die antiken Möbel, die gedämpften Farben und die Bilder alter Meister erzeugten den Eindruck von Schlichtheit – doch dies als Krönung des Luxus.
    Bei ihrer Ankunft hatte sich Laurence gesagt: »Ich komme von einem Museum ins andere.« Dabei war ihr jedoch das Haus in Passy noch trübseliger, noch verlassener vorgekommen.
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    Sie erhob sich und trat, angelockt von Stimmengewirr und Ge-lächter, auf die überdachte Galerie hinaus.

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