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Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt

Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt

Titel: Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fuenfte Offenbarung
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nur noch mehr zu. Sagen Sie mir offen, nachdem Sie das ja wohl auch durchgemacht haben: Lohnt sich denn das?«
    »Aber ja! Und im Übrigen: Haben Sie denn eine Wahl? Man kann sich nicht auf Dauer vor der Begegnung mit sich selbst drücken. Es sei denn, man riskiert, seine Seele zu verlieren.«
    »So wie Jean-Louis?«
    Sie erschauderte, und das Herz wurde ihr schwer. Wie viel Trauer in einer so kurzen Frage lag!
    »Ja, wie Jean-Louis«, antwortete sie.
    Auf dem Ortsschild, an dem sie gerade vorbeifuhren, stand: Maisons-Laffitte.
    Die letzten fünfzig Meter legte der Wagen im Schritttempo zurück, als ob sein Fahrer bewusst die Ankunft verzögern wolle.
    »Wenn ich daran denke, dass ich mich noch nicht einmal bei Ihnen bedankt habe«, sagte er und stellte den Motor ab. »Sie hatten Gründe genug, um es abzulehnen … Übrigens habe ich anfangs gezögert, Ihnen seine Bitte zu bestellen. Aber man hatte mir versichert, dass er sie unablässig wiederhole, als ob … Hören Sie, ich weiß nicht, was Ihnen Monique alles berichtet hat, aber ich möchte Sie doch lieber vorher warnen: Sie könnten einen Schock bekommen, wenn Sie ihn sehen.«

Sie bemerkte, dass er den Zündschlüssel nicht abgezogen hatte.
    »Kommen Sie denn nicht mit?«
    »Nein, ich warte hier auf Sie!« In seiner Stimme lagen sowohl Kummer als auch Zorn. »Jean-Louis hat mir bestellen lassen, dass meine Besuche … Kurz, er will mich nicht sehen. Und ich muss Ihnen gestehen, dass mir das eine große Erleichterung ist. Nach unserer letzten Begegnung brauchte ich zwei volle Tage, um wieder 475

    ins Gleichgewicht zu kommen. Sie können sich übrigens Zeit lassen: Ich bin hier in guter Gesellschaft…«
    Er zeigte ihr eine Kassette mit Bachkantaten und setzte hinzu, das sei in dieser Situation noch das, was ihn am ehesten ein bisschen trösten könne.
    Das Landhaus lag ein wenig abseits von der Straße, halb verdeckt von den hohen Linden und großen Fliederbüschen. Sie ging auf das Eingangsportal zu, machte dann aber auf dem Absatz kehrt: Sie hatte Fjodor Gregorowitschs Geschenk auf dem Rücksitz vergessen.
    Antoine war vornüber auf das Lenkrad gesunken, die Stirn auf einen Unterarm gelegt. War er bewusstlos geworden? Nein, seine Schultern zuckten. Laurence zögerte zunächst, öffnete dann jedoch die hintere Tür. Dabei drangen die Klänge des Chorals ›O Haupt voll Blut und Wunden!‹ in die wohlriechende Landluft. Sie griff ohne ein Wort nach der Pralinenschachtel und entfernte sich eilends.
    Eine kräftig gebaute Krankenschwester öffnete ihr mit abweisendem Gesicht die Tür. Wo nur hatte sie die Frau schon gesehen? Bei Catherine, genau!
    Die Frau schritt ihr durch eine Zimmerflucht mit quietschenden Parkettböden voran. Angesichts des im Haus schwebenden Dufts von frischem Aprikosenkompott versicherte sie, sie habe nun schon alles versucht, aber der Herr Becker höre ja auf nichts und behalte nichts bei sich, nicht einmal die dünnste Brühe. Der Arzt habe schon von der Notwendigkeit künstlicher Ernährung gesprochen, sei das denn nicht schlimm?
    »Sie wenigstens erwartet er voller Ungeduld«, versicherte sie, als sie die Veranda betraten, deren Jalousien herabgelassen waren. »Den ganzen Vormittag über lag er mir Ihretwegen in den Ohren!«
    »Tatsächlich? Was hat er denn gesagt?«
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    »So gut wie nichts natürlich! Er hat einfach immer wieder nach Ihnen gefragt und ist begierig auf Neuigkeiten. An Ihrer Stelle wür-de ich mich auf einen Heiratsantrag gefasst machen! Er hat mich gebeten, ich solle Sie auf der Terrasse auf ihn warten lassen. Entschuldigen Sie jetzt bitte, ich will ihm sagen, dass Sie angekommen sind – und ihm auch herunterhelfen, denn er ist ziemlich schwach auf den Beinen.«
    Laurence trat auf die Terrasse hinaus und setzte sich in der Sonne in einen alten Korbsessel, der unter ihrem Gewicht bedenklich knarzte und knackte. »Ich werde wohl gleich mit dem Hintern auf dem Boden sitzen und alle viere von mir strecken«, dachte sie, und irgendwie lenkte dieser triviale Gedanke sie ab. Jetzt, da die Begegnung mit Jean-Louis unmittelbar bevorstand, empfand sie keine Zweifel oder Besorgnis mehr. Was auch immer geschehen mochte, es war richtig, dass sie hergekommen war.
    Trotz Antoines Warnung erschrak sie nun doch, als er näher trat: Er war nur noch ein Schatten seiner selbst. Und es lag ein seltsamer Widerspruch darin, dass er zugleich gealtert und verjüngt schien: Dieser Ausdruck eines kleinen Jungen, der noch kürzlich nur wie ein

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