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Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt

Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt

Titel: Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fuenfte Offenbarung
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Misshandlungen verursachten psychischen Schäden bis zu den eigentlichen Heilmaßnahmen im Bereich der somatischen Medizin, der Heilgymnastik und der Psychotherapie.
    Laurence lauschte, einer Gewohnheit zufolge, die sich unbewusst bei ihr entwickelt hatte, zwei Reden zugleich: einer ausgesproche-nen und einer zweiten, die sich wortlos dahinter verbarg. Sie stellte weder die Ausführungen dieser bemerkenswerten Frau in Frage noch deren Hingabe an eine Aufgabe, die sie ganz erfüllte. Aber sie hatte doch auch den Eindruck, dass hier zum hundertsten Male ei-ne Erläuterung abgespult wurde mit dem festen Willen, den Zuhö-
    rer zu überzeugen.
    Laurence unterbrach den Vortrag, als es gerade um die Beziehung zwischen den durch die Misshandlungen verursachten körperlichen Schäden der Opfer und ihrer psychischen Zerrüttung ging.
    »Danke, diesbezüglich bin ich voll auf dem Laufenden! Haben Sie mich kommen lassen, um mir all das zu erzählen?«
    »Von ›kommen lassen‹ kann keine Rede sein«, entgegnete die Lagerstein barsch. »Woher hätte ich das Recht dazu? Ohne unseren 70

    gemeinsamen Freund Becker, der darauf bestand …«
    »Sie haben irgendwelche Gerüchte gehört, die mich betreffen«, fiel ihr Laurence ins Wort.
    Teresa Lagerstein seufzte auf; sie zog es bei weitem vor, unverhoffte Fragen zu stellen, anstatt welche zu beantworten.
    »Kennen Sie einen Mann namens Sayyed Razmadi?«
    »Nein, ich glaube nicht. Warum?«
    »Er ist einer unserer Heiminsassen hier. Ein sehr schwerer Fall, eine schwere … Störung. Der Mann war acht Wochen lang Gefangener im so genannten ›Kloster‹ von Maghrabi und behauptet, Sie von dort zu kennen. Wären Sie zu einem Gespräch mit ihm bereit?«
    Ein unerklärliches Gefühl von Frieden überkam Laurence, als ob alle Spannungen, die sie seit Wochen bedrängten, sich schlagartig lösten und Ruhe in ihre Seele einkehre.
    »Er steht doch wohl schon hinter der Tür?«, fragte sie. »Worauf warten Sie also noch, um ihn hereinkommen zu lassen?«
    Antoine zuckte zusammen und machte eine protestierende Geste.
    Wer war dieser Razmadi? Warum hatte man ihn nicht über das Auftauchen eines Zeugen informiert?
    »Die Résidence Victor ist kein Polizeiquartier«, sagte Frau Lagerstein. »Nichts von dem, was in diesem Büro gesprochen wird, dringt über seine Wände hinaus. Es sind einfach Zweifel aufgetreten, was Sie betrifft, Frau Dr. Descombes, und wir können die Gerüchte nur zum Schweigen bringen, wenn wir sie aufklären. Es tut mir Leid, dass ich mich so unumwunden ausdrücken muss!«
    Sie griff nach dem Telefonhörer, und wenige Augenblicke später trat ein Mann herein, der Mitte Vierzig sein mochte. Er ging gebeugt, eine seiner Schultern war höher als die andere. Sein Gesicht war aschgrau, sein Blick irrte suchend umher.
    Frau Lagerstein lud ihn ein, Platz zu nehmen, aber er trat hinter den Stuhl, den sie ihm angewiesen hatte, und umklammerte dessen 71

    Lehne mit beiden Händen, als fürchte er, das Gleichgewicht zu verlieren.
    »Ich kenne sie, das ist sie!«, stammelte er.
    Seine hervorgestoßene Behauptung war umso überraschender, als er seine Augen allenfalls eine Sekunde lang auf Laurence gerichtet hatte. Becker rutschte unruhig auf seinem Sessel hin und her.
    »Frau Dr. Descombes?«, fragte Frau Lagerstein.
    Laurence betrachtete Sayyed Razmadi und schüttelte schweigend den Kopf. Sie hütete sich, ein Wort zu sagen. Denn wie hätte sie erklären sollen, dass sie sich zwar keineswegs an diesen Mann persönlich erinnern konnte, dass sie jedoch in ihm alle die anderen erkannte, die sie untersucht hatte, nachdem sie den Händen ihrer Peiniger entronnen waren; die sie nach besten Kräften gepflegt hatte und von denen sie doch gewusst hatte, dass man sie nur wieder neuen Qualen unterwerfen würde, sobald sie einigermaßen wieder-hergestellt waren?
    »Sie hätten mich verrecken lassen sollen«, sagte Razmadi.
    »Nein, das hätte ich nicht tun können«, entgegnete sie mit klarer Stimme. »Eine solche Wahl hatte ich nicht!«
    Beeindruckt von ihrer Festigkeit wechselten Frau Lagerstein und Becker erstaunte Blicke.
    »Ich weiß es ja!«, schrie Razmadi und verzog das Gesicht, als ob er gleich in Tränen ausbrechen würde. »Ich wollte das ja auch nicht sagen. Man konnte überhaupt nichts machen. Und ohne Sie wäre ich jetzt nicht hier …«
    Auf wen bezog sich sein ›Sie‹? Auf Laurence? Das war schwer zu sagen, weil er hartnäckig seine Augen auf den Fries an der Decke richtete …

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