Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
Polizei kursierenden Anekdoten zu widersprechen, denen zufolge Balzac eigentlich ein in einen Hund mit der Fähigkeit zum Bauchreden verwandelter Psychiater sei und Teddybär nur seine Handpuppe.
Sie entschuldigte sich zunächst, dass sie zum letzten vereinbarten Termin im März nicht habe kommen können, weil sie überraschend abkommandiert worden war zur Teilnahme an der Beiset-zung von fünf amerikanischen Polizisten, die in einen Hinterhalt der ›Boston-Gang‹ geraten waren. Aus dem gleichen Grund war auch der vorgesehene Besuch Sandrines in Ottawa ins Wasser gefallen.
»Ich habe meine Tochter seit dem letzten Sommer nicht mehr gesehen«, klagte sie. »Fast zehn Monate sind das jetzt! Eigentlich sollte sie über Weihnachten kommen, aber ihr Vater und seine Sipp-schaft mussten ja zwei Wochen Ferien in Puerto Vallarta machen!
Und ich wollte sie schließlich auch nicht daran hindern, mitzurei-sen. Man könnte fast denken, dass es eine Belastung für sie ist, mich hier zu besuchen. Wir werden uns immer fremder … Und wenn sie dann schon mal hier ist, ist das Wichtigste für sie ihr Großvater! Sie himmelt ihn an, obwohl er doch alles andere als unterhaltsam ist. Dabei besucht er sie ohnehin regelmäßig alle zwei Monate in Mont-Laurier. Dann bringt er mir immer die neuesten Fotos mit…«
»Sie vermeiden immer noch Gespräche mit ihm über Ihre Tochter?«
»Ja … Dabei hat er mir nie irgendwelche Vorwürfe gemacht! Er hat mir lediglich gesagt: ›Früher oder später wird sie dich brauchen.
Und dann musst du verfügbar sein!‹«
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»Macht Sie das traurig?«
»Ich denke eher über seine eigene ›Verfügbarkeit‹ nach. Ich weiß nicht, ob ich es je fertig bringen würde, ihn um Hilfe zu bitten. Dabei bin ich sicher, dass er mich nicht hängen lassen würde.«
»Woran Sie zweifeln, ist, ob Sie sich ihm gegenüber als ›kleines Mädchen‹ fühlen können…«
Teddybärs Augen waren haselnussbraun, sanft und gütig. Er war der einzige Mensch auf der Welt, zu dem sie uneingeschränktes Vertrauen hatte.
»Letzte Woche ist etwas geschehen …«
Mit gepresster Stimme berichtete sie ihm von ihrem Besuch in Rockliffe und von dem Verdacht, der ihn veranlasst hatte. Noch jetzt fiel es ihr schwer, das in Worte zu fassen. Ja, sie hatte sich doch tatsächlich vorgestellt, dass der ehrenwerte Richter sich mit dem Senator Murdstone und anderen Notabein der Hauptstadt zusam-menfand, um dicke Zigarren zu rauchen, Aperitifs zu schlürfen und sich dabei den Todeskampf der jungen Türkin Moira anzuschauen, der man die Zähne einzeln ausbrach.
»Wie konnte ich nur einen einzigen Augenblick glauben, dass mein Vater zu einem solchen Verhalten fähig wäre?«, schrie sie heraus. »Dass ich ihm so etwas zutrauen konnte … Ich fühle mich so schmutzig, es ist schlimmer als nur ein Vertrauensbruch!«
»Es kommt nicht eben häufig vor, dass Sie sich schuldig fühlen …«
Sie antwortete nicht und hatte noch mit ihrer Beschämung zu kämpfen. Sie tätschelte Balzac den Kopf, der, die Schnauze in ihrem Schoß, herzzerreißend leise jaulte.
»Nein, glücklicherweise«, sagte sie schließlich.
»Und Ihr Vater, wessen fühlt er sich Ihrer Meinung nach schuldig?«
Sie nahm eine angespannte Haltung ein, denn sie witterte eine Falle.
»Eine offene Frage«, setzte Teddybär hinzu und betrachtete dabei 91
seine Handflächen. Sie warf ihm einen schiefen Blick zu. Sie verabscheute diese ›offenen Fragen‹, die sie oft tage- und nächtelang ver-folgten. Andererseits aber: Warum nahm sie es eigentlich als gegeben an, dass er über die Dinge wissen müsse, die ihr selbst unbekannt waren?
»Mir schoss während unseres gemeinsamen Abendessens plötzlich eine Kindheitserinnerung durch den Kopf. Sie werden ja wissen, dass ich eine französischsprachige Volksschule besucht habe, die von Nonnen geleitet wurde …«
»Nein, das wusste ich nicht.«
»Tatsächlich? Ist ja auch nicht so wichtig. Wir beteten jedenfalls, wie sich das gehört, jeden Tag den Rosenkranz. Und jedes Mal, wenn es hieß Sainte Marie, mère de Dieu, sagte stattdessen etwas in mir Merde de Dieu*. Ich versuchte wirklich alles, um mich davon abzubringen, aber nichts half. Und es verursachte mir furchtbare Angst, feststellen zu müssen, dass mein Wille nicht stark genug war, bestimmte Gedanken zu verdrängen …«
»Sie warfen mit dieser Formulierung Gott vor, den Tod Ihrer Mutter zugelassen zu haben. Eine sehr gesunde Reaktion … Ich hätte Sie gerne zu dieser
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