Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
von einem schmiedeeisernen Gitter mit einem Flügeltor begrenzt wurde. Auf einem matt gewordenen Messingtäfelchen konnte Laurence lesen: ›Musée Louis-Philippe Desaulnier‹. Was wollten sie hier, in dieser menschenleeren Straße, an diesem sonnigen Nachmittag? Hatte ihr Begleiter denn nicht gesagt, sie würden zu ihm nach Hause gehen?
Fjodor Gregorowitsch ging auf eine Nebentür an der Seite des Gebäudes zu und zog einen gewaltigen Schlüsselbund hervor. Er wählte einen Schlüssel aus, als ob er sich bei einer Lotterie für ein bestimmtes Los entscheiden müsse, und wirkte überrascht, als dieser sich tatsächlich im Schloss drehte.
Sie folgte ihm in das Haus der Familie Desaulnier, die auch schon bessere Zeiten erlebt hatte. Letzter Spross war der Bildhauer Louis-Philippe, der zu Beginn der fünfziger Jahre seine Seele ausgehaucht und neben einer untröstlichen Witwe auch ein schriftliches Testament hinterlassen hatte. In diesem war das Haus einer Stiftung übertragen worden mit dem Auftrag, die ruhmreiche Erinnerung an das Schaffen des Künstlers aufrechtzuerhalten. Das dazu bestimmte Museum war jeweils samstags von 14 bis 17 Uhr geöffnet, was nach Meinung Fjodor Gregorowitschs noch zu viel war. Er konnte sich nicht erinnern, jeweils mehr als drei Besucher an einem Tag gezählt zu haben … Die bedeutendsten Werke waren im Erdgeschoss aus-gestellt. Das gedämpfte Licht, das durch die herabgelassenen Jalousien der großen Fenster fiel, schien den hier versammelten steinernen Gestalten ein gewisses Leben zu verleihen.
»Schlimmer als Sozialistischer Realismus!«, knurrte der Russe und begann die knarzenden Stufen hinaufzusteigen. »Bombastischer 103
Akademismus in seiner höchsten Blüte! Sie sind nicht zufällig aller-gisch gegen Hunde?«
»Nicht dass ich wüsste«, entgegnete Laurence, ohne ganz sicher zu sein, ob sie seine Frage auch richtig verstanden hatte.
Im Obergeschoss waren die Zimmertüren geöffnet, aber rote Stoffbänder davor verwehrten, eher symbolisch, den Eintritt. Alle Möbel und Gegenstände des täglichen Gebrauchs waren so belas-sen worden wie zu Lebzeiten Louis-Philippe Desaulniers. Auf seinem Nachttischchen lag noch eine Ausgabe des Matin, dessen Schlagzeile die Hinrichtung des Ehepaars Rosenberg meldete.
»Kaum zu glauben, dass Desaulnier eine Berühmtheit der Belle Époque war«, meinte Fjodor Gregorowitsch, dessen Akzent umso gravierender wurde, je mehr er seine Stimme senkte. »Er war Präsident der Akademie, erhielt noch 1928 den ersten Preis auf der Gro-
ßen Kunstausstellung von Monaco, war ein Lieblingskind der gro-
ßen Gesellschaft und wurde mit Lobgesängen überhäuft. Und was ist davon geblieben? So gut wie nichts! Lächerliche Hymnen auf die Mittelmäßigkeit, Steinklötze, welche auf Bewunderer warten, die sich nicht blicken lassen! Man sollte einen Besuch dieses Museums zur Pflicht machen, um die Vergänglichkeit zu verdeutlichen!«
Am Ende des Vestibüls befand sich eine Wendeltreppe nach oben, an der ein Schild verkündete: ›Kein Aufgang für Besucher‹. Laurence folgte ihrem Führer und hatte dabei das Gefühl, diesen Augenblick schon einmal erlebt zu haben.
Das Atelier nahm das ganze obere Geschoss ein. Durch hohe, schräge Fenster fiel das Sonnenlicht ein. Die überhitzte Luft war er-füllt von einem allgegenwärtigen Zwitschern: Irgendwo musste ein Vogelkäfig sein. Und ringsum waren die Bretter hoher Regale voll gestopft mit ausgestopften Tieren, deren Glasaugen auf eine verfüh-rerische Venus starrten, die in unverkennbarer Erwartungshaltung in Stein gebannt war.
Ein alter Hund kam herbeigetrottet und erwartete ein Streicheln 104
seines Herrn, bevor er eher gelangweilt an den Waden von Laurence schnupperte. Beruhigt wandte er sich ab und ließ sich wieder an seinem Platz neben dem Ofen nieder.
»Er heißt Kummerseele; ein treuer Kamerad aus schweren Zeiten, heimlich eingeschmuggelt. Jorge Amado kennen Sie doch, den gro-
ßen Schriftsteller, den brasilianischen Homer? Ich werde Ihnen spä-
ter Tocaia Grande schenken, sechshundert Seiten Menschenleben, das beste Mittel gegen dümmlichen Optimismus!«
»Ich habe nichts von ihm gelesen«, gab sie zerstreut zu und schaute sich aufmerksam um. »Ich habe seit langer Zeit überhaupt nichts gelesen.«
In dem riesigen Raum hatte Fjodor Gregorowitsch seinen Lebens-bezirk mit Hilfe zweier großer Perserteppiche abgegrenzt. Der eine lag im Hintergrund und deutete mit einem Bett und einer Kommode darauf
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