Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
einen Schuhs und streifte mit einer Knöchelbewegung den anderen ab.
Das Gleiche wiederholte er mit dem zweiten Schuh.
»Das reicht erst mal«, befand sie. »Jetzt verschränke die Hände im Nacken und bleib unbeweglich stehen!«
Das Duzen ließ ihn zusammenzucken. Sie musterte ihn mit kriti-schem Blick ohne jede Verlegenheit und war sich dabei bewusst, dass eine solche Ungeniertheit nur möglich war, weil beide bereit waren, sich an die Regeln dieses Spiels zu halten, selbst wenn es schamlos sein mochte. Sie stellte fest, dass sie sich vorhin geirrt hatte, als sie ihn im Stillen ein schmächtiges Kerlchen nannte: Er be-saß die Muskulatur eines Schwimmers, ohne ein Gramm Fett darauf.
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Sie hatte seinen Striptease angehalten, ehe er auch noch seinen Slip auszog, einen winzigen japanischen Minislip aus weichem Leder. Aber es war weit weniger dieses täschchenartige Bekleidungs-stück, was ihren Blick anzog, als das Kettchen um seinen Fußknö-
chel. Sie brauchte sich nicht erst davon zu überzeugen, dass die Initialen auf der Namensplakette die ihren waren: K.E.M. Sie empfand ein flüchtiges Gefühl wie Freundschaft, ja fast Dankbarkeit gegen-
über diesem nackten Sklaven, der seine Haltung mit erhobenen Armen und ihr zugewandten Achselhöhlen beibehielt. Sie verdrängte diese Empfindung in der Überzeugung, dass der sicherste Weg, ihr den Genuss zu verderben, ein Abgleiten in die Sentimentalität wäre.
Sie trat näher. War es das Erbe der asiatischen Ahnin? Sein seh-niger Körper war schmal, und als sie sein Gesicht betrachtete, fragte sie sich, ob Thierry wohl jemals einen Bart oder Schnurrbart haben könnte, der diesen Namen wirklich verdiente. Dabei bemerkte sie, dass er sich seinerseits wohl am meisten für die Form ihrer Lippen zu interessieren schien. Sie wollte ihm gerade sagen, dass er ihr doch in die Augen schauen solle, als sie begriff, dass es genau diese Freiheit war, die er sich versagte. Beim ersten Verstoß würde sie ihn zur Ordnung rufen. Und schließlich hatte sie ja einen hübschen Mund. Sie würde sich weiß Gott nicht beklagen, wenn endlich einmal jemand ihr aufs Wort gehorchte!
Sie legte ihm die Hand auf die Brust, was einen anhaltenden Schauer auf der nackten Haut vor ihr auslöste. Es schien ihm an Luft zu mangeln, und er flüsterte so leise »Danke!«, dass sie daran zweifelte, ihn richtig verstanden zu haben. Sie zwang sich, weiterhin Gleichgültigkeit vorzutäuschen, konnte sich aber selbst immer weniger das Klopfen des eigenen Herzens verhehlen.
»Was ist das für ein Parfüm?«
»Gentleman, von Givenchy«, antwortete er mit unbewegter Stimme.
»Das ist zu aufdringlich. Du wirst das wechseln gegen etwas Leich-161
teres, mit einer Spur von Zitrone. Green Water vielleicht. Jetzt kannst du die Arme herunternehmen. Verschränk sie im Rücken –
ja, so.«
Mit leichter, aber entschlossener Hand griff sie nach dem ledernen Täschchen zwischen seinen Schenkeln, wie um es abzuwiegen.
»Keine stehende Begrüßung?«, sagte sie mit leicht ironischem Unterton. »Die Begeisterung lässt zu wünschen übrig?«
»Im Gegenteil«, antwortete er ohne die geringste Verlegenheit.
»Es ist das erste Mal, dass ich in Ihrer Gewalt bin. Die Erregung darüber bindet all meine Kräfte. Das ist nur vorübergehend, keine Sorge!«
Beeindruckt trat sie einen Schritt zurück. Wie viele Männer mit seiner Bildung hätten es wohl fertig gebracht, einem derartigen Miss-geschick so gelassen zu begegnen? Dabei begriff sie, dass sie die
›Wahrhaftigkeit‹ Thierrys wohl niemals erfassen würde, wenn sie daran den Maßstab früherer Erfahrungen anlegte. Sie erkannte auch, dass sein Genuss darin bestand, nackt vor ihr zu stehen, weil sie ihm das so befohlen hatte. Er erwartete nichts weiter und würde frie-rend, unbeweglich und glücklich so stehen bleiben, bis er einen weiteren Befehl erhielt.
Es war das erste Mal, dass sie mit einem Mann in einer intimen Situation war, ohne dass dieser es eilig gehabt hätte, zur Sache zu kommen. Dennoch war Thierry aufmerksam gegenüber dem, was um ihn herum geschah, und aufmerksam ihr gegenüber – gegen-
über ihren Ansprüchen, ihren Wünschen an ihn. Aber was waren das für Wünsche? Sie fragte sich, ob er nicht darüber besser Bescheid wisse als sie selbst.
»Mach mir einen Scotch«, sagte sie schließlich, wandte sich ab und setzte sich. »Pur, mit zwei Eiswürfeln.«
Er ging ohne jedes Zögern an das kleine Barfach. Ob er wohl während Ihrer Abwesenheit
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