Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
schon einmal hier gewesen war? Wenn er schon wie ein Einbrecher in ihren Computer eingedrungen war, wa-162
rum nicht auch in ihre Wohnung? Nein, das war wohl Unsinn: Es war schließlich kein Kunststück, bei diesen Einbaumöbeln zu erkennen, wo das Barfach untergebracht war.
Sie schaute ihm zu, wie er in die Küche hinaus und an den Kühlschrank ging, dessen Licht aus der geöffneten Tür einen kalten Schein auf seinen nackten Körper warf. Sie war fasziniert davon, mit welcher Natürlichkeit er sich seinem ›Dienst‹ unterwarf, und verwirrt durch das ungewohnte, angenehme Prickeln, das sein Anblick in ihr auslöste. Die männliche Anatomie hatte nie sonderliche Erregung in ihr geweckt, noch nicht einmal gesteigertes Interesse. Warum war das plötzlich bei diesem Thierry anders? »Er hat irgendetwas Androgynes an sich«, dachte sie. »Dabei macht er auf seine Weise gar keine schlechte Figur. Aber es ist vor allem die Art, wie er sich gibt, diese Bereitwilligkeit. Ein seltsamer Vogel!«
Er kauerte sich zu ihren Füßen nieder und reichte ihr das Glas, in dem die Eiswürfel klirrten. Er neigte den Kopf und lehnte ihn leicht gegen ihren Schenkel. Sie legte ihm die Hand auf den Nacken und bedeutete ihm damit »Rühr dich nicht!«
Sie fühlte sich als Herrin über die Zeit – ein unglaubliches Ge-fühl! Es lag in ihrer Macht, die Erwartung andauern zu lassen, und nicht nur das: sie selbst zu unterbrechen. Ohne dafür irgendjemandem gegenüber Rechenschaft ablegen zu müssen. Und es lag auch ganz und nur bei ihr, jetzt Schluss zu machen.
Sie spielte in Gedanken verschiedene Möglichkeiten durch: Sie könnte sich von ihrem Sklaven ein Bad einlaufen lassen und ihn dann wegschicken, oder ihm die Augen verbinden und sich von ihm einseifen lassen. Oder sich ihn einfach in ihr Bett holen und sich von ihm ganz nach ihren eigenen Wünschen lieben lassen. Aber hatte sie darauf wirklich Lust? Machte es viel eicht mehr Spaß, ihm zu befehlen, sich draußen vor ihrer Tür zum Schlafen hinzulegen, wie das bei den Dienern großer indischer Familien der Fall sein sollte? Ihn als Leibwächter behandeln, dem es strengstens verboten 163
war, sie auch nur zu berühren? Sie hatte es sich in ihrem Sessel ge-mütlich gemacht, den Kopf zurückgelegt und die Augen geschlossen. Unter ihren Fingerspitzen spürte sie das Blut im Nacken von Chose pochen und empfand die Weichheit seiner Haut. Sie lächelte und genoss ungläubig dieses Bild. Und zum ersten Mal seit sehr langer Zeit gönnte sie sich den Luxus, ganz unentschlossen zu sein.
Gegen sieben Uhr wurde Kiersten durch den Geruch von frischem schwarzem Kaffee und warmen Hörnchen aus dem Schlaf geweckt.
Sie fand ein Tablett neben dem Bett und eine Notiz Thierrys mit der Warnung: »Der Morgen ist immer gefährlich!« Er hatte sie im Schlaf betrachtet und überlegt, was ihr wohl beim Aufwachen die meiste Freude machen würde. Das Ergebnis war dieses Frühstück –
und seine Aufgabe als Sklave war es schließlich, über das Übliche und Alltägliche hinauszuschauen. Obendrein hatte er erkannt, dass sie sicher besonders gerne allein wäre beim Aufwachen.
Kiersten genoss das Frühstück und dachte darüber nach, dass die Gerüchte über die angeblichen andersartigen Neigungen Thierrys so überraschend eigentlich auch wieder nicht waren. »Er erfühlt bestimmte Dinge wie eine Frau«, fand sie, und das verwirrte sie, fast schon zu sehr. Natürlich hatte sie mit großer Erleichterung beim Erwachen festgestellt, dass außer ihr nur Cashew in der Wohnung war – aber wie hatte Chose es nur geschafft, aus der Wohnung zu schlüpfen, ohne sie zu wecken, obwohl sie doch gewöhnlich einen leichten Schlaf hatte?
In der Nacht hatte er ihr bewiesen, dass er sehr wohl in der Lage war, ›die Initiative zu ergreifen‹ – und wie! Sie hatte schon Bekannt-schaften mit Männern gehabt, die durchaus aufmerksam waren und auf ihre Bedürfnisse eingingen, aber selbst mit ihnen war es immer eine Sache von Geben und Nehmen gewesen. Thierry jedoch schien die eigene Lust gar nicht wichtig zu sein – gerade dadurch aber war 164
wohl auch er voll auf seine Kosten gekommen …
Als sie im Badezimmer in den Spiegel schaute, überkam sie wieder dieses Gefühl der Unwirklichkeit, das sie schon mehrfach empfunden hatte, seit Chose in ihr Leben getreten war. Und wenig spä-
ter überraschte sie sich dabei, dass sie unter der Dusche lauthals lachte.
Gegen zehn Uhr ging eine lakonische E-Mail bei ihr ein: »Muss
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