Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
Sie sprechen. Dringende Angelegenheit. T. Bugeaud.«
Einen Augenblick lang fühlte sie sich bedroht. Hatte sie Thierry falsch eingeschätzt? Glaubte er nun, die Geschehnisse dieser Nacht gäben ihm Rechte über sie? Das fehlte ja gerade noch! »Was dringend ist, entscheide ich«, antwortete sie. »Warten Sie gefälligst, bis ich mich wieder bei Ihnen melde!«
Kurz vor Mittag kam Patricia aus dem Vorzimmer herein und meldete, Herr Bugeaud sei draußen und bestehe darauf, dass er sie dringend sprechen müsse.
»Gut, führen Sie ihn herein!«, sagte sie, sich steif aufrichtend.
Ihr Zorn fiel sofort in sich zusammen, als sie Thierrys Gesichtsausdruck sah: Er hatte sichtlich einen schwer wiegenden Grund, sie zu stören. Warum hatte sie das nicht gleich begriffen?
Sie war zunächst versucht, so zu tun, als hätte sich nichts zwischen ihnen abgespielt, verwarf das aber als feige. Andererseits kam ein Duzen im Büro nicht in Frage, nicht einmal unter vier Augen.
Das hätte zu leicht dazu geführt, sich später vor Dritten zu verplap-pern.
»Wo haben Sie denn die Hörnchen bekommen?«
»Bei Lartigue, ganz früh schon, frisch aus dem Ofen!«
»Sie waren tatsächlich einkaufen? Ich habe nicht das Geringste davon gehört!«
»Ich war eben leise …«
165
»In der Küche stand eine Untertasse auf dem Boden. Sie war leer, und trotzdem schleckte Cashew noch daran herum …«
»Königsspeise von Purina…«
»Sie mag doch sonst nur Trockenfutter!«
»Das wusste ich nicht. Nachdem sie mich gestern so freundlich empfangen hat, war das doch ein Dankeschön wert!«
»Ich nehme mal an, dass diese ›dringende Angelegenheit‹ nichts mit all dem zu tun hat…«
»Nein«, antwortete er nach kurzem Zögern. »Oder doch jedenfalls nicht unmittelbar. Ich hatte Ihnen doch gestern meine Hilfe angeboten wegen dieser Snuffs. Sie hatten das abgelehnt, aber ich habe begründeten Anlass, darauf zurückzukommen.«
»Nämlich?«
»Es geht um diese Praktikantin im Büro von Richter MacMillan, Mona-Lisa Peres. Deren Überprüfung hat doch nichts Auffälliges ergeben. Es gab da lediglich diese Studienreise in die Mittelmeerländer.«
»Ich habe den Bericht gelesen. Und?«
»Die Peres ist nicht mit ihrer Gruppe zurückgekehrt. Sie hat ihren Aufenthalt in Europa um zwei Wochen verlängert.«
»Aha! Und woher wissen Sie das?«
»Ich habe die Daten von Air Canada überprüft.«
»Überprüft? Ohne Genehmigung?«
»Ihr Datenschutz ist das reinste Sieb!«
»Das ist illegal!«, sagte sie streng. »Ich will nichts davon hören!
Ich sähe mich sonst gezwungen …«
»Mona-Lisa Peres hat vierzehn Tage in Malta verbracht«, fuhr er fort, als ob er ihre Verwarnung gar nicht gehört hätte. »Ein ungewöhnlich langer Aufenthalt, um ein paar Inselchen zu besichtigen, finden Sie nicht auch?«
In ihr ging eine Warnlampe an.
»Malta?«, wiederholte sie.
166
»Ich musste ja gestern, ob ich wollte oder nicht, Ihr Telefonge-spräch mit Sandrine mit anhören. Dabei wurde auch diese Insel er-wähnt. Ob das wirklich nur ein Zufall ist?«
Kiersten war bleich geworden und antwortete nicht sogleich. Sie dachte nach, und ihr Herz zog sich dabei in kalter Furcht zusammen.
167
10. KAPITEL
aurence wurde vom Läuten einer Glocke aus ihrem Schlaf geris-Lsen. Sie sprang sofort auf, musste sich dann aber vor Bestürzung an der Wand festhalten: Ihre Rosshaarmatratze befand sich nicht mehr auf dem Balkon, sondern im Zimmer. Es beunruhigte sie, dass sie nicht die geringste Erinnerung daran hatte, sie hereingeholt zu haben.
Durch das Fenster sah sie lange, bunte Reihen auf den schmalen Pfaden an der Flanke des Hügels – die Mirandisten der verschiedenen Gruppen waren unterwegs zum Frühstück im Refektorium. Sie hatte zwar keinen Hunger, aber das hinderte sie nicht daran, sich in aller Eile anzukleiden. Rasch fuhr sie sich mit dem Kamm durchs Haar, einen längeren Blick in den Spiegel schenkte sie sich …
Eine Jüngerin erwartete sie schon vor dem Gebäude. Die Morgen-helle unterstrich das Weiß ihres Gewandes.
»Mein Name ist Jasmine. Der Erste Ratgeber möchte Sie sprechen. Er ist im Olivenhain; ich begleite sie hin …«
Sie mochte etwa dreißig Jahre alt sein, und ihr Gesicht war ent-stellt durch eine große Hasenscharte. Ihre Blicke fuhren beständig unruhig umher, als wolle sie sagen: »Schauen Sie mich bloß nicht an!« Warum nur hatte sie sich nicht behandeln lassen? Ein Chirurg 168
hätte diese Verunstaltung doch zumindest verringern
Weitere Kostenlose Bücher