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Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt

Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt

Titel: Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die fuenfte Offenbarung
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damit sagen, dass Sie wieder ganz hier sind, und dass nicht ein Stück von Ihnen dort zurückgeblieben ist?«
    »Das behaupte ich ganz und gar nicht! Sie sprechen von meiner Gefangenschaft, als ob … Was wissen Sie denn von mir?«
    »Alles und nichts. Nichts, weil man alles vergessen kann, was die Nachrichtenhändler so verbreiten. Alles, weil ich wie Sie jene Stunde vor dem Tagesanbruch kenne, in der die Dinge noch keine Konturen haben, die Mauern noch keine Festigkeit und das Herz kalt ist wie Eis.«
    Sie fühlte, wie ihre feste Entschlossenheit, wachsam zu bleiben und auf der Hut vor dem, was Journalisten als die ›magische Kraft‹
    El Guías bezeichneten, ins Wanken kam. Sie warf sich vor, sich von dem einlullen zu lassen, was andere ihr gesagt hatten, statt sich die 171

    Zeit zu nehmen, sich eine eigene Meinung zu bilden. Sie hatte Fjodor Gregorowitsch anvertraut, dass sie es nicht mehr vertrage, im Kreis von Leuten zu sein, die sprachen, ohne wirklich etwas zu sagen. Konnte sie sich jetzt diesem Mann entziehen, der unter Verzicht auf allgemeine Floskeln gleich auf den Kern der Dinge kam?
    Was er sagte, hatte Gewicht: Nach dem Tode Che Guevaras hatte er in Bolivien achtzehn Monate in einem elenden Kerkerloch verbracht.
    D'Altamiranda gab Jean-Louis ein Zeichen, dass er sie allein lassen solle. Hatte er gespürt, dass die Anwesenheit dieses stummen Zeugen Laurence belastete? Er folgte ihm mit den Blicken und murmelte:
    »Dieser Mann hat Sie geliebt!«
    »Hat er Ihnen das gesagt?«
    »Seine Vergangenheit ist ohne Bedeutung. Er hat die Schwelle der Entsagung überschritten, und von da an zählt nur noch die Zukunft für ihn. Nachdem ich Sie nun kennen gelernt habe, kann ich den Wert seines Opfers erst richtig ermessen.«
    »Die Dritte Schwelle, nicht wahr? Ich glaubte, dass die Geweihten auf ihren Namen verzichten müssten …«
    »Von ›müssen‹ kann bei uns überhaupt keine Rede sein. Hier im Heiligtum wird auf niemanden irgendein Zwang ausgeübt, ich wür-de das niemals erlauben. Jeder hier bringt sich mit vollen Kräften ein, aber nach seinen jeweiligen Möglichkeiten. Eine Verpflichtung, die man nicht aus innerer Überzeugung auf sich genommen hat, kann niemals zur letzten Stufe der Verklärung führen. Was unseren Freund betrifft, so erfordern es seine Aufgaben, dass er von seinen Brüdern unterscheidbar bleibt. Aber missverstehen Sie das nicht: Es ist eine Prüfung, und wenn er sie auf sich nimmt, so geschieht dies, um eine Sache voranzubringen, die über ihn wie auch mich hinaus-geht.«
    Er lud sie ein, mit ihm ein paar Schritte durch den Garten zu ma-172

    chen. Ohne Übergang erläuterte er ihr, dass jedes menschliche Wesen, das zu seiner vollen Entfaltung kommen wolle, die Angst vor Schmerzen und vor dem Tod überwinden müsse. Die fleischliche Hülle sei ein Kerker, unsere leiblichen Bedürfnisse seien entwürdigende Fesseln, von denen man sich befreien müsse.
    »Das Leiden ist Bestandteil der menschlichen Lebensbedingungen«, meinte sie. »Man kann es bekämpfen, aber nicht leugnen.«
    »Dann muss man eben die Lebensbedingungen verändern! Die Stunde der großen Veränderung hat geschlagen, Laurence. Man muss lernen, auf diese künstliche Unterscheidung zwischen Gut und Böse zu verzichten, die den Fortschritt der Menschheit so gehemmt hat.«
    »Verzichten wofür? Und zu wessen Gunsten?«
    Er nickte mit dem Kopf, als ob die von ihr gestellte Frage der entscheidende Punkt seiner Argumentation sei. Dennoch enthielt er sich einer Antwort darauf und vertiefte sich stattdessen in ›ergänzende und antagonistische‹ Anmerkungen zum Verhältnis von Realität und Wahrheit.
    Sie hörte ihm fasziniert zu. Ja, er war erfüllt von einer mystischen Vision, die ihm plastisch vor Augen stand, während er davon sprach; von einem Glauben, für den die äußere Welt keine Rolle spielte, denn die Quelle dafür sprudelte in ihm selbst. Er wandte ihr einen in seiner Intensität fast schmerzenden Blick zu, der zwei Botschaften enthielt. Die erste lautete: »Ich brauche Sie und Ihr Vertrauen!« – und ihr folgte sogleich die zweite: »Wenn Sie mir nicht folgen, werde ich mein Ziel auch allein erreichen, so hoch die Hindernisse und der Preis dafür auch sein mögen.«
    Niemals zuvor war sie einer so starken Persönlichkeit begegnet.
    Es war ihm gelungen, in ihr das berauschende Gefühl auszulösen, etwas ganz Besonderes zu sein – nichts Geringeres als das einzige noch fehlende Glied, das die Entscheidung zwischen

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