Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
Sieg und Nie-derlage brachte. Zugleich aber empfand sie eine unüberbrückbare 173
Distanz zu ihm und war nicht weit davon entfernt, die Schuld daran allein bei sich zu sehen. »Was muss ich tun, um sie zu überwinden?«
Die alte Kapelle der Johanniter war sorgfältig restauriert worden.
Die alten Farbfenster hatte man neu zwischen Glasscheiben gefasst und sie vor den Fensteröffnungen aufgehängt. Die Innenausstat-tung war gekennzeichnet durch äußerste Schlichtheit: Mit Ausnahme einiger Statuen und eines steinernen Orantensitzes am Hoch-altar war alles sonstige Kultgerät verschwunden. Auch Bänke oder Stühle fehlten völlig, und der Boden bot das Labyrinth der byzan-tinischen Motive seines Plattenbelags frei den Blicken dar.
Laurences Seelenzustand änderte sich. Lag das an dem Wohlge-ruch hier oder am Farbenspiel des durch die bunten Fenster fallenden Lichts? Dieses weckte in ihr die Erinnerung an die Mosaiken und Reliefs einer anderen Kapelle, verwandelt in einen Ort der Fins-ternis, wo die Schergen des Oberst Sheba ›ihre Künste übten‹. Und als Nächstes dachte sie an jene Kirche in Paris, die sie kurz vor der Pressekonferenz betreten hatte. Gab es eine Verbindung zwischen diesen Orten, diesen Ereignissen?
Jean-Louis saß allein im Schneidersitz auf einer Hanfmatte in der Mitte der Kapelle. Seine Augen waren geschlossen, er atmete flach, seine Handflächen waren in Gebetshaltung nach oben gerichtet. Er hatte etwas Asketisches, Entrücktes an sich. Warum erstaunte sie das? Forderte die Mirandistische Lehre nicht die Selbstentäußerung?
Verzicht auf vordergründige Befriedigung, auf Belohnung, Verzicht darauf, geliebt zu werden … In ihrem Zimmer hatte man für sie eine Broschüre hingelegt, in der sie gelesen hatte, dass die höchste Stufe die Astrale Verklärung sei, bei der nach Belieben der Geist den Körper verlassen und in den Gärten der Dämmerung wandeln könne – ›die Vorstufe zur Vereinigung mit dem Licht, von anderen 174
aus Unkenntnis oder Schwäche Tod genannt‹. Jean-Louis beendete seine Meditation und erhob sich, ohne die Hände zu Hilfe zu nehmen. Sein Blick war klar, aber abwesend, als ob er Schwierigkeiten habe, in die Realität zurückzukehren, nachdem er in einer anderen Welt geweilt hatte.
»Jasmine hat mir deine Nachricht übermittelt«, sagte sie.
»El Guía hat heute Morgen mit mir über dich gesprochen. Unter all den Zeugen hier im Heiligtum bist du ihm aufgefallen. Du hast starken Eindruck auf ihn gemacht.«
»Auch er hat mich außerordentlich beeindruckt.«
Er betrachtete sie und schien zunächst auf mehr zu warten: Begeisterung, Dankbarkeit. Davon aber verspürte sie nichts, und sie hütete sich auch davor, etwas von der Verwirrung preiszugeben, welche die Begegnung mit D'Altamiranda in ihr ausgelöst hatte.
»Ich war überrascht davon, dass er dir die Handauflegung gewährt hat«, fuhr Jean-Louis fort. »Das geschieht sonst niemals bei einer ersten Begegnung. Du hast sein Vertrauen gewonnen …«
Sie senkte die Augen, ohne zu antworten.
(Gestern hatte ihr kurz vor der Verabschiedung der Patriarch die Hand auf die Stirn gelegt, die Finger zu zwei Strahlen zusammen-gelegt. Sein zerfurchtes Gesicht hatte er dabei dem Himmel zugewandt. Dabei war ein Ausdruck des Leidens in seine Züge getreten, wie der Widerschein eines fernen Erdbebens. Laurence war von einem starken Glücksgefühl durchströmt worden, vermischt jedoch mit einer Art von Schrecken. Eine solche Empfindung war ihr zuletzt in ihrer frühen Jugend begegnet – als geheime und intime Erfahrung.)
»Er möchte die Begegnung mit dir durch einen weißen Stein mar-kieren«, setzte Jean-Louis leise hinzu. »Sag jetzt nichts – du wirst es schon noch verstehen.«
Sie folgte seinem Blick.
Dora und Gabriella waren in die Kapelle getreten und schritten 175
zögernd voran. Die Mauern warfen das Echo ihrer Schritte zurück.
Mit einer nervösen Bewegung suchte die Kleine ihr gelocktes Haar mit den Händen zu bedecken. Bei ihr zu Hause trat man nicht mit unbedecktem Kopf in eine Kirche.
Laurence durchfuhr der Verdacht, dass der theatralische Effekt der Situation nicht zufällig war. Schon in Rhages, in den Tagen ihrer gemeinsamen Idylle, hatte sich Jean-Louis auf wirkungsvolle Inszenierungen verstanden.
»Die Entscheidung El Guías ist zu Ihren Gunsten ausgefallen«, verkündete er. »Und Frau Dr. Descombes hier war nicht unbeteiligt daran…«
»Danke! Danke! Gott möge Sie segnen!«, rief Dora,
Weitere Kostenlose Bücher