Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
Nichte zu machen. Warum griff sie 185
jetzt nicht dieses Stichwort auf, an das sich so gut anknüpfen ließ und das Dora vielleicht gar nicht so zufällig hatte fallen lassen, wie es scheinen mochte? Sie war vielmehr daran, sich Dora anzuvertrauen; dabei war das vorher das Letzte gewesen, was sie sich hätte vorstellen können.
»El Guía hat mir den Schutz des Heiligtums angeboten. Mit anderen Worten: Er hat mich eingeladen, hier zu bleiben …«
»Den Schutz vor wem?«
Einmal mehr durchfuhr Laurence der Verdacht, Dora spiele vielleicht eine ganz bestimmte Rolle. Sie dachte: »Ich muss verrückt sein, ihr zu vertrauen!«
»Schutz wovor, wenn schon! Ich habe keine Feinde. Andererseits gehen gewisse Gerüchte um, die mich betreffen …«
»Und Sie wollen nicht in den Schmutz zurückkehren. Gut so!«
Laurence hatte sich noch nicht entschieden. Die Aussicht einer Rückkehr nach Paris, um sich dort Antoine Becker stellen zu müssen, das Misstrauen der Lagerstein aushalten, das Drängen der Brodsky … Hier dagegen ließ man sie in Ruhe. Die Leute akzeptier-ten sie, ohne Fragen zu stellen, sie hätte Zeit zum Lesen, sich Notizen zu machen oder sich dem Buch zu widmen, das in ihrem Inneren rumorte wie ein Kind, das zur Welt drängte.
»Sie sind sehr in Gedanken«, sagte Dora.
»Entschuldigen Sie! El Guías Vorschlag beschäftigt mich sehr, das ist wahr. Welch ein außergewöhnlicher Mensch! Als er gerade gesprochen hat, hatte ich das Gefühl, er spreche nur zu mir. Ging Ihnen das auch so? Ich bin nicht mystisch veranlagt, aber ich muss an Pfingsten denken: Da kam der Heilige Geist über die Apostel, und jeder hörte sie in seiner Sprache reden.«
»Und trotzdem zögern Sie, seine Einladung anzunehmen.«
Laurence antwortete nicht; sie dachte: »Mein Seelenzustand interessiert sie gar nicht! Wieso hört sie mir dennoch so aufmerksam zu?«
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Sie verwarf die Absicht, ihr von dem kleinen Erlebnis zu berichten, als sie mit dem Lieferwagen bei dem Gemüsehandel angehalten hatten. Was hätte es auch schon groß zu erzählen gegeben: Sie hatte überrascht einen Ausdruck der Furcht auf dem Gesicht eines Ge-müsehändlers bemerkt. Das war auch schon alles. Dora hätte wohl kaum verstehen können, dass dieser flüchtige Eindruck eine so gro-
ße Rolle spielte bei ihrem Zögern, sich für ein Bleiben hier im Heiligtum zu entscheiden.
Ihr Dahinschreiten wurde von heftigem Geknatter unterbrochen.
Ein geländegängiges Motorrad war um die Ecke des Klostergebäudes gebogen und kam im Zickzack über den sich schlängelnden Weg auf sie zu gefahren. Darauf saß mit bloßem Kopf Jean-Louis; als er sie erreicht hatte, stellte er den Motor ab.
»Tut mir Leid, dass ich euren Spaziergang stören muss«, sagte er mit umwölkter Miene. »Ich habe eine schlechte Nachricht …«
Bei Catherine Le Gendre war in der Nacht ein Anruf aus Saint-Brieuc eingegangen: Man habe Laurences Vater ins Krankenhaus bringen müssen wegen eines Herzinfarkts. Er liege im Koma, und die Aussichten seien nicht gut.
»Heute früh trifft die Planungsgruppe für die Große Versammlung hier ein«, fügte er mit einem Ausdruck des Bedauerns hinzu.
»Das macht es mir ganz unmöglich, mich um dich zu kümmern.
Aber Jasmine hat sich erboten, dich nach Mgarr zu bringen. Du wirst dich beeilen müssen, denn die nächste erreichbare Maschine geht um 13.40 Uhr… Laurence, was ist denn?«
Dora fasste die Schwankende am Arm, um ihr Umsinken zu verhindern.
»Danke … der Schock … es geht schon …«
Sicher, die Nachricht hatte sie tief getroffen, aber ihr Ohnmachts-anfall war durch etwas anderes ausgelöst worden. Denn zum ersten 187
Mal sah sie einen dieser fürchterlichen Risse an einem lebenden Wesen! Ein solcher Riss verlief schräg über die Stirn von Jean-Louis, vom Brauenbogen der einen zur Schläfe der anderen Seite, und dahinter waren die weißlich grauen Windungen des Gehirns zu sehen.
Unter der klaffenden Wunde schauten sie die blauen Augen ihres ehemaligen Geliebten Laurence mit beklemmender Besorgnis an.
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11. KAPITEL
ean-Louis Becker war mit dem Zug nach Iskbah im Nordosten Farg-Jhestans gefahren, um ein Treffen zwischen Said Boudjenah und dem ab-trünnigen Imam Abdel Baâ, vorzubereiten. Er reiste im Auftrag von Harmonices Mundi, deren Bemühungen die Unterzeichnung einer Vereinbarung für die Vorbereitung von Friedensverhandlungen für das Gebiet der Syrte zu verdanken war. Für die Rückreise mietete er sich, entgegen den
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