Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
Ver-standesschärfe. Waren es nicht gerade sie und seine rasche Entschei-dungskraft in schwierigen Lagen, die seine Stellung bei El Guía be-gründet hatten? Diese Entschlossenheit konnte täuschen: Man hät-te sie leicht für Gefühllosigkeit halten können. Aber Zwang, Gefahr und Katastrophenstimmung stachelten insgeheim den Ersten Ratgeber an, verschafften ihm das Gefühl, mächtig wie eine Droge, den jeweiligen Augenblick mit vervielfachter Intensität zu erleben. Das Chaos wurde für ihn zur höchsten Herausforderung.
Er löste Alarm aus. Neben El Guía war er der Einzige, der eine direkte Verbindung zu Argos hatte, dem geheimen Meister des Schwarzen Ordens. (Die im Heiligtum wohnenden Geweihten waren das Elitekorps ihrer Kaste. Die anderen, die anderweitig als Vorposten der Universellen Vereinigungskirche tätig waren, ge-horchten diesem Meister aufs Wort, dem sie niemals persönlich begegnet waren und dessen Gesicht sie nicht kannten. Der Schwarze Orden als solcher war eine Sekte innerhalb der Sekte.) Eine Stunde später erstattete Argos im Büro von Jean-Louis seinen Rapport. Dora war unauffindbar. Ihre persönlichen Sachen, ohne jegliche Bedeutung, waren in ihrem Zimmer geblieben, wo sie offenbar die Nacht verbracht hatte. Jasmine hatte sie noch bei Tagesanbruch auf dem Rundweg gesehen. Alle verfügbaren Leute waren aufgeboten worden, um ihrer habhaft zu werden und sie außer Sichtweite in den Gewahrsam des Gemüselagers von Xaghra zu bringen, wo sie befragt werden würde. Wenn die Anwesenheit von Zeugen die Durchführung dieses Plans unmöglich machen sollte, wür-196
de man einen Unfall vortäuschen. Der Mirandistische Vertrauensmann bei der zentralen Polizeibehörde in Valletta war verständigt worden, ebenso das gesamte Informantennetz in Gozo. Es war alles in die Wege geleitet, um die Flüchtige daran zu hindern, die Anlegestelle in Mgarr zu erreichen. Als letztes Mittel stand schon ein Scharfschütze bereit.
»Ihre Flucht ist eine schwere Bedrohung der Sicherheit El Guías!«, betonte Jean-Louis.
»Ich weiß.« beteuerte Argos mit vor Wut funkelnden Augen.
»Was geschieht mit der Kleinen?«
»Nach Istanbul mit ihr, so rasch wie möglich. Offiziell hat man sie heute Morgen mit ihrer Tante das Heiligtum verlassen sehen.
Sorgen Sie für Übereinstimmung der Zeugenaussagen …«
»Ist schon veranlasst!«
»Rechnen Sie mit einem Auftauchen der Polizei?«
»So schnell nicht. Unseren Quellen zufolge wissen die Herrschaf-ten bisher noch nichts von der Geschichte. Es ist auch unwichtig: Wenn sie kommen sollten, sind wir vorbereitet…«
Jean-Louis begab sich zu seiner üblichen Meditation in die Kapelle der Johanniter. Er übte dort die Methode der Verdrängung, wesentlicher Schlüssel für die Dritte Schwelle.
Er hatte die schreckliche Nacht in Maghrabi, in der er seine Seele verlor, keineswegs vergessen. Wenn er unter der Folter gesprochen hätte, wäre er der Zerknirschung vielleicht entronnen. Später dann hatte er seine Freunde Boudjenah und Abdel Baâ verraten, um sich zu beweisen, dass das Böse nicht Sache seiner freien Entscheidung war, sondern eine Fehlsteuerung seiner Gene, der gegenüber er ohnmächtig war.
Nein, vergessen hatte er nichts. Aber er hatte gelernt, diese Erinnerungen unter Kontrol e zu halten, sie mit seinem Wil en zu steuern. Es war ihm völlig klar, dass er seinerzeit Laurence ans Messer geliefert hatte, um die eigene Haut zu retten. Aber Schuldgefühle 197
diesbezüglich konnte er völlig unterdrücken.
Was ihn jetzt beschäftigte, war vielmehr Gabriella, die er heute Morgen dort abholen musste, wo er sie am Abend vorher hinge-bracht hatte. El Guía hatte sich nicht sehen lassen, aber man konnte davon ausgehen, dass er mit dem Mädchen zufrieden gewesen war, nachdem er sie die ganze Nacht über bei sich behalten hatte.
Falls er sie ein weiteres Mal bei sich würde haben wollen, wäre es vielleicht sogar eine Enttäuschung für ihn, erfahren zu müssen, dass man sie aus Sicherheitsgründen aus dem Heiligtum hatte entfernen müssen. Da wäre es zweifellos gut, sich gleich nach einem Ersatz umzuschauen. Wie wäre es mit Bahija, der kleinen Mauretanierin?
Noch kaum elf, aber doch schon mit entwickelten Formen, Andeutungen davon zumindest. Man sollte sich vorsorglich unter der Hand darüber informieren, ob vielleicht ihre Hautfarbe für den Meister …
Über das Schicksal, das die Geweihten Gabriella bereiten würden, machte sich Jean-Louis keine großen Gedanken. Die
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