Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
so, als ob für ihn die Devise gelte, dass es ›immer einen Weg gibt, sich zu arrangieren‹.
»Dieses Gesicht müsste Ihnen allerdings bekannt sein«, fuhr er dann fort und hielt ihr ein zweites Foto hin.
»Ja, ich denke schon. Ein Senator, nicht wahr? John Murdstone?«
»Getroffen! Hatten Sie schon einmal persönlichen Kontakt mit ihm?«
»Ich? Nein – wieso? Ich glaube nicht einmal…«
Julien deutete auf ihre Silhouette im Hintergrund der Aufnahme aus der Cafeteria. Anhand dieses Fotos hatte man sie identifiziert.
Eine Hexerei? Aber keineswegs! Man hatte ihr Foto von ihrem Dienstausweis abgenommen und, mit ihrem Namen versehen, in den Computer eingespeist. Den spuckte er jetzt jedes Mal aus, wenn ihr Gesicht auf einer von ihm überprüften Aufnahme zu sehen war… Der Fortschritt ließ sich nicht aufhalten!
»Halten Sie mich für blöd?«, schrie sie, blass werdend. »Sie verdächtigen mich, ich hätte irgendetwas übergeben an diesen Mann da…«
»Welchen?«
»Weiß ich doch nicht! Jedenfalls stimmt es nicht. Sie können mich doch nicht einfach beschuldigen! Ich kenne meine Rechte, und ich werde…«
Er protestierte gegen ihre Unterstellung und versicherte ihr, niemand verdächtige sie in dieser Angelegenheit. Überdies sei das Ge-päck Farik Kemals vom Schweizer Zoll sorgfältig untersucht wor-201
den, doch ohne jedes Ergebnis. Die Kassette, die ihr abhanden gekommen sei, sei übrigens unbespielt gewesen. Das sei doch immerhin merkwürdig, nicht?
Kiersten saß im kleinen Labor von Thierry Bugeaud und schaute sich erstaunt das Gesicht der jungen Peres an: große feuchte Augen, unschuldig reine Züge, entwaffnende Schüchternheit.
»Man würde ihr ohne Beichte die Kommunion reichen.«
»Was ja sozusagen auch geschehen ist. Eine gelungene Inszenierung!«
»Sie sind sicher, dass sie lügt?«
»Sie lügt, wie sie atmet!«
Thierry sagte das mit einer Betonung, die darauf hinwies, dass dies ganz wörtlich zu nehmen sei.
Kiersten konnte den Blick nicht vom Bildschirm nehmen.
»Man könnte meinen, dass sie präpariert worden sei!«
»Sie lügt, und sie weiß das! Und genau deshalb kann sie Pinocchio nicht täuschen. Dabei hat sie keinerlei Skrupel – sie ist überzeugt davon, dass sie es zum Nutzen einer guten Sache tut, einer geheiligten Sache sogar, ihrer Meinung nach.«
»Und das sagt Ihnen alles Ihr Programm?«
»Überzeugen Sie sich selbst davon!«
Er hielt den Lauf des Videos an, um ihr Erklärungen über die Ar-beitsweise seines Überprüfungssystems zu geben. Das hübsche Gesicht erstarrte plötzlich, wurde auf dem Bildschirm vervielfältigt und zerlegt. Details wurden zu albtraumhaften Bildern zusammengesetzt und verglichen, formten sich zu einem Wirbel von Grimassen und krampfhaften Zuckungen. Die Bewegungen der Augäpfel und der Schlag der Wimpern wurden in ihrer Geschwindigkeit verfünf- und verzehnfacht. Dadurch wurde der Blick der Befragten unerträglich und wirkte wie von panischer Angst erfüllt. Jetzt wurde die Nasen-202
partie vergrößert, und der Computer maß Abfolge und Umfang der Nasenflügelbewegungen. Das Befeuchten der Lippen, die Mundbewegungen, das Runzeln der Brauen, die Färbung der Haut, selbst die winzigsten Veränderungen des Gesichtsausdrucks – nichts entging dieser elektronischen Inquisition.
»Es fehlt nicht viel, und die junge Frau tut mir Leid! Das ist ja ungeheuerlich: Ihr Innenleben wird förmlich auseinander genommen, bei lebendigem Leibe seziert! Obendrein kann sie sich nicht dagegen wehren!«
Warum schien er überrascht durch ihre Bemerkung? Hatte er sie für so hart und unerbittlich gehalten? Er erläuterte ihr, dass sie bisher ja nur einen Teil dieses Prüfprogramms gesehen hätte. Ein weiterer Bestandteil sei die Stimmüberprüfung auf Rhythmus und Tonfall, Tonhöhe, Wortintervalle, Pausenlängen usw. Selbst wenn eine Lüge gelegentlich einmal durch die Maschen des Netzes schlüpfen könne, führe der Wechsel vom Wahren zum Unwahren zu einem Spannungsabfall; und allein dies schon sei ein untrügliches Zeichen.
»Pinocchio steckt seine Nase eben überall hinein! Und was er dabei entdeckt, duftet nicht immer nach Rosen … Aber ich darf mir den Hinweis gestatten, dass die junge Dame – ganz im Gegensatz zu uns – keineswegs beunruhigt war. Wir haben Bedenken, weil wir in ihre Intimsphäre eingedrungen sind – sie selbst hat davon gar nichts mitbekommen.«
»Das heißt also, dass ich mein Mitgefühl an die falsche Person verschwende!«
Er
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