Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
warf ihr plötzlich einen ganz intensiven Blick zu. Nun schien doch ein gewisses Gefühl an ihm offenkundig zu werden.
»Ich muss mir auch immer wieder nachdrücklich zureden, um mich davon zu überzeugen, dass das richtig ist. Immer klappt es aber auch nicht: Gelegentlich muss ich mich regelrecht am Riemen reißen, um mich von einer Zerstörung dieses Schnüffelprogramms 203
abzuhalten! ›Zauberlehrlings-Syndrom‹ würde das unser guter Teddybär wohl nennen.«
Kiersten sagte nichts dazu. War sie schon so weit, dass Chose sie mit nichts mehr überraschen konnte?
Von der Überwachung John Murdstones, der rund um die Uhr beschattet wurde, lagen nun die ersten Ergebnisse vor. Man hatte festgestel t, dass der ehrenwerte Herr unter einem Pseudonym über Internet regelmäßig Kontakt mit einer gewissen Frikka unterhielt.
Die ausgetauschten Nachrichten waren so kurz und nichts sagend, dass es schon wieder auffällig war. Die letzte besagte, man müsse
›das Leben in vollen Zügen genießen‹ und schlug ein Treffen in Ottawa vor, ›gleicher Ort, gleiche Zeit‹, am ersten Freitag des Monats. Ein nächtlicher Besuch im Büro des Senators und ein heimlicher Blick in seinen Terminkalender verrieten, dass für diesen Tag ein Raum für ein intimes Mittagessen im Universitätsclub reserviert worden war – am gleichen Ort also, an dem Richter MacMillan all-wöchentlich seine Tochter zu treffen pflegte.
Zu gleicher Zeit war Kiersten von ihrem Vertrauensmann beim FBI darüber informiert worden, dass Farik Kemal eine Reise in die USA anzutreten gedenke mit einem Abstecher von achtundvierzig Stunden nach Ottawa. Die Daten stimmten überein: Es war kein Zweifel mehr, wer sich hinter dem Pseudonym Frikka versteckte.
Verdächtig war dieser Vogel allemal. Allein schon deshalb, weil es ihm gelungen war, so lange in Freiheit zu bleiben! Immerhin hatte er vor zehn Jahren ein Netz für internationale Kinderprostitution aufgezogen. Der Zuhälterei, der Verführung Minderjähriger und der Entführung angeklagt, war er zwar von einem Gericht in Ankara zum Tode durch den Strang verurteilt worden. Doch nach drei-zehnmonatiger Haft hatte man ihn freigelassen, und es wurde behauptet, dass er als Gegenleistung versprochen habe, Stillschweigen 204
zu bewahren über gewisse Neigungen von Ministern und anderen hohen Regierungsbeamten.
Nach einigen Jahren, die im Dunkel blieben, hatte er sich auf dem heimlichen Markt für Snuffs engagiert. Er arbeitete allein und besuchte seine Abnehmer stets höchstpersönlich, dabei war er äußerst bedacht auf seinen ›guten Ruf‹: Von ihm erhielt man zum vereinbarten Zeitpunkt immer Ware bester Qualität, die genau den Vorgaben entsprach. Im Verlauf der vergangenen anderthalb Jahre war sein Aufenthalt in den Flughäfen von siebenundzwanzig Hauptstädten registriert worden. Besonders eifrige Behörden hatten ihm mehrfach auf den Zahn gefühlt, doch immer völlig vergeblich. In drei Fällen (darunter beispielsweise Zürich) hatte man in seinem Gepäck Videokassetten gefunden. Diese waren jedoch unbespielt gewesen oder hatten nichts enthalten außer seinen ›persönlichen Aufnahmen‹: Bilder von Pflanzen- und Blumenschauen in den Städten, in denen er sich aufgehalten hatte. Denn das ganze Interesse dieser empfindsamen Seele galt exotischen Blumen, fleischigen Pflanzen und Zwergbäumen.
Die Geschicklichkeit Kemals grenzte an ein Wunder. Der Mitteilung eines Spitzels zufolge war er voll unterrichtet über das Interesse an seiner Tätigkeit und darauf sogar noch stolz. Über seine Abnehmer wusste man im Großen und Ganzen kaum etwas; daher bot sein Treffen mit Senator Murdstone einen Ansatzpunkt, der nicht zu unterschätzen war. Dennoch interessierten sich die GRC, das FBI und Interpol nur mäßig für die Abnehmer der Snuffs. Ihr Interesse lag auf einer höheren Ebene: Man wollte die Kette verfolgen bis zu den Produzenten, den Folterern, den Opfern. Bestimmten Hinweisen zufolge musste die Hauptlieferquelle für Farik Kemal in der Türkei liegen. Wenn das stimmte, war eine Aufklärung fast unmöglich: Dort war der Lieferant außerhalb des Zugriffs, und Bestechlichkeit öffnete ihm alle Wege.
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Kiersten bemerkte bei ihrem Treffen mit Julien Boniface sofort dessen Beunruhigung. Er erklärte ihr, dass er einen Zusammenschnitt der abgehörten Unterhaltung gemacht habe.
»Ich ging davon aus, dass Sie an Kommentaren des Türken über die Qualität des Filet Wellington nicht sonderlich interessiert
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