Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
Spitzen, mit einer kleinen Tür, vor der ein mächtiges Vorhängeschloss hing; zur Decke hin verlief ein dickes 222
Rohr, wahrscheinlich der Luftzufuhr dienend. In dem Kasten saß ein kleines Kind von etwa anderthalb Jahren, ein Junge, nackt; er knabberte an einer Tafel Schokolade, Mund und Hände waren ver-schmiert. Neben dem Kasten eine junge Frau, verzweifelt, dass sie das Kind nicht erreichen konnte, sich noch sträubend, das Unvermeidliche zu begreifen. Sie warf sich gegen die Zellentür, schrie um Hilfe, flehte (auf Griechisch). Sie kehrte zu ihrem Kind zurück, redete unablässig auf dieses ein, versuchte vergebens, das schwere Schloss abzureißen. Die Kamera schwenkte auf einen Weidenkorb zu, der an einem Strick von der Decke hing, außer Reichweite. Wo-zu mochte er dienen?
Völliges Schweigen herrschte im Penthouse, man hörte nur Vladimirs Atemhilfe, ihr beklemmendes Zischen, den Aufschub des Erstickungstodes verkündend. »Ich habe mich gründlich geirrt«, musste Julien verstört bekennen. Er erkannte, dass sich hier aus der Situation eine ganz andere Realität entwickelte, wie bei einem Ka-leidoskop, wenn aus einer Grundform plötzlich eine völlig andere geometrische Figur entsteht. Er hatte sich anhand der Snuffs seine Vorstellung von ihren Konsumenten gemacht und diese in der un-tersten Schicht des Abschaums angesiedelt: geistig Kranke, völlig Verdorbene, bar jeden Gefühls, ekelhaftes Gesindel.
Aber nichts von alldem. Er erkannte, dass die Leute hier um ihn ein gänzlich anderes Bild boten. Sie waren an diesem Abend versammelt, um gemeinsam eine ganz außergewöhnliche Erfahrung zu machen, eine Art von Initiation zu erleben. Ihr Verhalten war weder blasiert noch zynisch, und wohl für keinen von ihnen schien ein menschliches Leben wertlos. Im Gegenteil, sie kannten dessen Wert nur zu gut, und deshalb hatten sie sehr viel Geld dafür ausgegeben, hier als privilegierte Zeugen einem Menschenopfer beizuwohnen.
Sie waren alles andere als gleichgültig den Qualen gegenüber, die man hier jemandem zufügte; sie erlebten dessen Ängste und Verzweiflung mit und waren unendlich erleichtert, dass diese ihnen 223
erspart blieben. Ihre Empfindsamkeit war zutiefst getroffen, ihr sitt-liches Gefühl im höchsten Maße aufgewühlt. Dieser Schock, dieser seelische Aufruhr verschaffte ihnen Schwindel erregende Lust in einem Ausmaß, welches das normale Leben niemals zu bieten vermochte. Überdies entdeckte Julien zugleich, dass die Ungeheuerlichkeit ihres Verhaltens nicht darin begründet war, dass sie sich vom Rest der Menschheit unterschieden, sondern gerade darin, dass sie diesem gleich waren.
Dann hörte er damit auf, zu beobachten und zu begreifen zu versuchen. Er ließ sich hypnotisieren von dem Geschehen auf dem Bildschirm. Farik Kemal hatte nicht übertrieben – es gab sicher nichts, was auf dem Gebiet des Unbeschreiblichen das hier Gezeig-te hätte überbieten können.
Der Weidenkorb senkte sich von der Decke herab. Eine Überraschung: er enthielt Schlüssel, ein gutes Hundert vielleicht. Die junge Frau begriff sofort und griff aufs Geratewohl einen heraus. Sie steckte ihn ins Vorhängeschloss, doch er passte nicht. Im gleichen Augenblick plumpste aus dem Lüftungsrohr ein dunkler Körper neben das Kind: eine Ratte, sichtlich ausgehungert und angriffslustig.
Die Mutter stieß einen durchdringenden Schrei aus, flehte die unsichtbaren Schergen an, versprach ihnen alles, was sie wollten. Der Korb war hinter ihrem Rücken wieder hochgezogen worden – warum nur hatte sie nicht gleich einige Schlüssel genommen? Jetzt musste sie, um ihn zu erreichen, auf den gläsernen Kasten klettern.
Doch das hätte geheißen, sich Knie und Hände zerfleischen zu lassen von diesen schrecklichen scharfen Spitzen der Beschläge … Vor Angst wimmernd, die Augen weit aufgerissen, trommelte sie mit ganzer Kraft gegen die gläsernen Wände des Kastens, von irrer Panik erfasst. Das einzige Ergebnis: Eine zweite Ratte plumpste aus dem Lüftungsrohr, kurz darauf folgte eine dritte. Die Tiere näherten sich dem Kind, das zu schreien begann und sie um Hilfe anflehte …
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Julien erhob sich gebückt aus seinem Sessel und schlich geduckt und leise aus dem Raum. Er richtete sich erst auf, als er an der Treppe angekommen war, und schritt diese hinab, sich am Geländer festhaltend. Droben war offenbar Conrad Perrault der Einzige, der sich Gedanken über sein Fortgehen machte; die anderen hatten es kaum wahrgenommen. Sie
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