Billon, Pierre - Die fünfte Offenbarung.odt
»Eine Kopie dieser ›Neuheit‹ von gestern. Vielleicht können Sie es dann besser verstehen!«
»Sie haben da was von einem Mechanismus gesagt. Worum geht's da?«
»Murdstone hatte uns zu Beginn der Vorführung den Rücken zu-gekehrt und an der Kassette herumgefummelt. Das hat mich auf eine Idee gebracht.«
Der Trick war verblüffend einfach.
Mit einem Fingernagel legte Julien einen winzigen Schalter an der Seite der Kassette um. Der Schutzdeckel hob sich, und man konnte das Magnetband sehen. Mit einer Pinzette holte er ein winziges schwarzes Würfelchen heraus, nicht viel größer als ein großes Zu-ckerkorn, aus dem gleichen Material wie die übrige Kassette – und dort in einer minimalen Vertiefung so untergebracht, dass es fast unmöglich war, es überhaupt zu entdecken.
»Ein Elektromagnet«, sagte er und legte das Teilchen vor Kiersten hin. »Betrieben durch zwei Lithium-Minizellen, ein echtes Wunderwerk. Ein wahres Glück, dass wir Murdstone nicht am Busbahnhof gefasst haben. Was wäre das wieder für ein Skandal geworden: Fest-nahme eines Senators wegen eines unbespielten Videobandes!«
»Ich glaube, ich hab's!«, sagte sie beeindruckt. »Aber trotzdem –
fahren Sie fort!«
»Wir hätten natürlich das Gleiche gemacht wie die Zöllner, die bei Kemal Videokassetten entdeckten: Wir hätten sie in einen Videorecorder gesteckt und abgespielt. Und das Band wäre dabei automatisch gelöscht worden, ehe es über den Abtastkopf gelaufen wäre.«
»Unglaublich! Wenn man bedenkt, dass so ein Teil für ein paar Dollar jede Entdeckung verhindern konnte! Nun, jetzt werde ich wenigstens nicht mit leeren Händen nach Paris fahren müssen …«
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Ohne dass es ihr selbst bewusst wurde, glänzten ihre Augen plötzlich. Sie sah sich schon bei der Sitzung von Interpol, inmitten ihrer Kollegen, wie eine Zauberkünstlerin sich in Szene setzend mit Hilfe dieses winzigen Würfelchens und einer Pinzette.
Sie warf einen schiefen Blick auf den weiteren, viel versprechen-den Inhalt des Aktenköfferchens: das dünne Notizbuch, verschiedenste Unterlagen, Exemplare des von Mona-Lisa Peres verschick-ten Katalogs, mehrere Videokassetten, die ihren geheimen Inhalt enthüllen würden. Es würde Tage in Anspruch nehmen, sich mit all dem zu beschäftigen.
»Das lässt sich leider alles nicht verwenden«, warf Julien ein.
»Wieso nicht?«
»Weil es unter Zwang beschafft wurde. Eine moralische Frage, fürchte ich …«
Kiersten hätte nicht erwartet, dass er ihr damit kommen würde.
Ausgerechnet er! Und in seiner derzeitigen Situation! Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß und bereitete ihre Antwort vor.
Aber er brachte sie völlig aus dem Konzept, verdammt noch mal.
Denn sie hatte ihn niemals weinen sehen, nicht einmal bei der Beerdigung des kleinen Jonathan. Jetzt aber konnte sie beim besten Willen nicht so tun, als merke sie nichts: Er schaute ihr mit nassen Augen direkt ins Gesicht, und sein Blick erwartete keineswegs eine Gefälligkeit von ihr, sondern war ein unverhüllter Schrei um Hilfe …
James Paddington und Balzac kehrten von ihrem Spaziergang zu-rück; wer von beiden war der Begleiter des anderen? Ihre Rückkehr hätte sich nicht besser fügen können; die Sonne zauberte auf die gleichfarbigen Haare von Herr und Hund schimmernde Reflexe. Julien hatte sich abgewandt und blickte ihnen entgegen. Was mochte er denken?
Sie nutzte die Gelegenheit und erhob sich. Ihr Platz war nicht mehr hier. Sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen, die über Freundschaft und über Mitgefühl ging. »Wie auch immer, diese drei Burschen 232
werden sich noch mancherlei zu erzählen haben.«
Sie hatte sich lange nicht mehr so mies gefühlt.
Hatte Thierry eine Intuition? Er kam in Kierstens Büro und fragte sie, ob sie ein paar Minuten Zeit für ihn hätte, obwohl es weder um etwas Lebenswichtiges noch etwas Vordringliches noch, offen gestanden, überhaupt etwas Wichtiges ginge.
»Warum nicht?«, meinte sie. »Es kann mir ohnehin nicht schaden, auf andere Gedanken zu kommen. Fünf Minuten also!«
Er legte ihr eine kunstvoll mit vielen Schnörkeln geschriebene Speisekarte vor und teilte ihr dazu mit, er wolle ihr einen Traum gestehen, den er schon lange hege. Sie nickte mit einer Miene, die besagte: »Von einem solchen Spinner bin ich auf alles gefasst!«
»Ich würde gern für Sie kochen«, verkündete er schlicht. »Ich habe eine Neigung zum Chefkoch in mir, die danach drängt, sich beweisen zu dürfen. Wenn Sie das reizen könnte,
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