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Bin ich hier der Depp

Bin ich hier der Depp

Titel: Bin ich hier der Depp Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Wehrle
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die Themen der Zeit: den Bau der Berliner Mauer, den Vietnam-Krieg und einen langhaarigen Studentenführer namens Dutschke.
    Die Arbeitnehmer waren selbstbewusst, sie wurden gebraucht. Der Arbeitsmarkt glich einer zauberhaften Schlingpflanze, er griff sich jeden, den er bekommen konnte, auch Hilfskräfte und Gastarbeiter. Von 1960 bis Anfang der 1970er Jahre gab es fast durchgehend mehr offene Stellen als Arbeitslose, es herrschte Vollbeschäftigung. [125]
    Doch 1973, mit der ersten großen Ölkrise, klang der Nachkriegs-Boom aus. Die Wachstumsraten halbierten sich, die Arbeitslosigkeit stieg in den folgenden Jahren rasant an. [126] Immer mehr Firmen packten den Rotstift aus, Arbeitsplätze wackelten, der Druck auf die Mitarbeiter wuchs.
    In den 1980er Jahren rückte die Welt zusammen, die Arbeit verdichtete sich. Das Faxgerät spuckte Aufgaben in Echtzeit von Kontinent zu Kontinent. Die Firmen schielten immer mehr auf fette Gewinne. Und die Nation fiel vor der Wirtschaft auf die Knie, während die Band »Geier Sturzflug« die ironische Hymne jener Zeit sang: »Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt.«
    Anfang der 1990er Jahre, nach dem Fall der Mauer, öffnete sich der eiserne Vorhang zu Osteuropa. Die Firmen überschlugen sich, um als Erste Kasse zu machen. Manager gingen dazu über, Business wie Krieg zu betreiben: Feindliche Übernahmen, bis dahin vor allem auf die USA beschränkt, breiteten sich in Deutschland aus. [127] Es zählte nur noch, was sich zählen ließ. Für einen steigenden Aktienkurs taten Manager alles, auch Mitarbeiter entlassen. Die stattlichen Überschüsse klimperten in die Taschen der Aktionäre. Die Gehälter der Arbeitnehmer kamen kaum von der Stelle. Und eine Einschätzung des Schweizer Dramatikers Friedrich Dürrenmatt wurde vollends wahr: »In der Wirtschaft geht es nicht gnädiger zu als in der Schlacht im Teutoburger Wald.«
    Während die Arbeitsmenge wuchs, schwand die Sicherheit der Arbeitsplätze. Das sorgte für Stress. Vermehrt tauchten Arbeitnehmer bei Ärzten auf und beklagten vier Arten von Beschwerden: emotionale Symptome – sie wurden gleichgültig, frustriert, zynisch und leicht reizbar; soziale Symptome – sie gingen dem Kontakt mit Menschen aus dem Weg, verschoben Präsenztermine, hielten keine Konflikte mehr aus und vereinsamten auch im Privatleben; intellektuelle Symptome – ihr Gedächtnis ließ nach, sie fühlten sich überfordert, entscheidungsschwach und unmotiviert; und körperliche Symptome – sie konnten nicht mehr durchschlafen, waren erschöpft, verspannt und klagten über Rückenbeschwerden.
    Diese vier Arten von Symptomen kennzeichnen den Burn-out. Auf einmal kam er in die Schlagzeilen. Auf einmal galt er nicht mehr als Randphänomen in Pflegeberufen, sondern als Problem der ganzen Gesellschaft.
    Dieser Trend verstärkte sich zur Jahrtausendwende, als die Arbeitswelt ohne Tempolimit durchstartete. Die Start-up-Unternehmen quollen empor wie Luftblasen aus kochendem Wasser, blauäugige Gründer stürmten aufs Parkett, und die Börsenkurse zischten in nie gekannte Höhen, um danach ebenso schnell zu verdampfen. Dank Internet war die ganze Welt nur noch einen Klick entfernt. Die E-Mail, schneller als der Wind, hängte den Brief ab. Das Handy, als Statussymbol gepriesen, machte die Mitarbeiter Tag und Nacht abrufbar.
    Und die Entlassungswut koppelte sich von den Unternehmensergebnissen ab: Siemens machte 2004 einen Gewinn von 3,4 Milliarden Euro und strich 6000 Arbeitsplätze. MAN dankte seinen Mitarbeitern einen Gewinnsprung um 62 Prozent durch das Ausradieren von 1500 Stellen. Ähnlich trieben es die meisten Großunternehmen, so RWE , BASF , Schering, Postbank und die Deutsche Telekom. [128]
    Dem Arbeitsmarkt des neuen Jahrtausends sind alle Sicherungen durchgebrannt. Werke werden geschlossen und an billigere Standorte verlagert, Zeitarbeiter für Hungerlöhne eingestellt, Hochschulabgänger mit befristeten Verträgen angeheuert. Und jedes Recht, das die Firmen sich herausnehmen, etwa auf Flexibilität, ist ein Recht, das den Mitarbeitern genommen wird, etwa auf Planbarkeit des eigenen Lebens. Der Acht-Stunden-Tag stirbt aus, die Arbeit übt den Würgegriff, und wo sichere Arbeitsplätze waren, sind nur Schleudersitze geblieben.
    Jeder Mitarbeiter soll springen, wenn der Arbeitgeber ruft, auch in seiner Freizeit. Jeder soll täglich beweisen, dass seine Arbeit mehr Geld bringt, als seine Entlassung sparen könnte. Die

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