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Bin Ich Schon Erleuchtet

Bin Ich Schon Erleuchtet

Titel: Bin Ich Schon Erleuchtet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suzanne Morrison
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vollzieht, mit Su am Tisch und sehe zu, wie sie ihr Opfer darbringt. Sie webt aus blassgrünen Bananenblättern dutzendweise viereckige oder runde Schächtelchen, ungefähr so groß wie meine Hand. Sie füllt sie mit Blumen, Bonbons, Räucherstäbchen und gekochtem Klebreis. Wenn sie fertig ist, stapeln sich auf ihrem Tablett einen halben Meter hoch die kleinen Behälter, die aussehen wie Osterkörbchen ohne Henkel.
    Hat man diese Opfergaben einmal bewusst wahrgenommen, entdeckt man sie plötzlich überall. Eine stand auf der Fahrt vom Flughafen auf dem Armaturenbrett von Ketuts Auto. Sie sind hinter den Toiletten im Casa Luna, dem freundlichen Open-Air-Restaurant in Ubud, wo wir fast jeden Tag Mittag essen. Die Stufen zum Wantilan sind übersät von ihnen. Es ist nicht üblich, sie wegzuräumen, nachdem die Hunde, Hühner und Ameisen den Inhalt gefressen haben und nur noch vertrocknete Blätter und Bonbonpapiere übrig sind. Also vermüllen diese verdorrten Opfergaben die Ecken sämtlicher Gebäude, auf den Feldern stapeln sie sich um die Vogelscheuchen herum, und sogar unter dem Kühlschrank in unserer Küche sind welche.
    Su ist für die Opfergaben der gesamten Wohnanlage zuständig, die fünf Gästehäuser, den Pool und die Außenanlagen; anschließend versorgt sie das Grundstück der Familie dahinter, eine Ansammlung wackeliger einstöckiger Wohngebäude und einen Tempel, der mehreren balinesischen Inkarnationen von Hindugöttern geweiht ist. Jeden Tag stellt sie die Opfergaben selbst her und verteilt sie.
    Meine Mit-Yogis halten Su für eine Verkörperung der Zen-Tugenden Gelassenheit und Harmonie, aber sie hat mir erzählt, dass sie nur einen Tag im Jahr frei bekommt, ihre Brüder und ihr Vater dagegen praktisch das ganze Jahr frei haben. Ihre Mutter, ihre Tanten und Cousinen und sie selbst erledigen die ganze Arbeit in der Anlage. Das alles hat sie ganz gelassen erzählt, also wer weiß? Vielleicht hat sie tatsächlich irgendeinen Zen-Zauber am Laufen. Aber ich frage mich schon, was passieren würde, wenn wir sie zu ein paar Sonnengrüßen bewegen könnten. Würden dann geheime Reservoirs an Groll und Ärger zum Vorschein kommen, die sich in ihren Muskeln und Sehnen angesammelt haben?

    Lou ist sehr direkt und wirkt oft frustriert, wenn ich eine Stellung nicht so lange halten kann, wie er es gerne hätte, aber Indra sagt Sachen wie: »Bring es zum Opfer, Suzanne!«, oder: »Mach ein Opfer daraus!«
    Erinnert mich an meine Mutter. Wenn ich mich beklagte, weil mir nach tausend Millionen Stunden Niederknien bei der Messe die Knie weh taten, forderte sie mich immer auf, den Schmerz Jesus zum Opfer zu bringen. Das hielt ich so ziemlich für das Bescheuertste auf der Welt. Wieso zum Kuckuck sollte Jesus meine Schmerzen wollen? Was sollte er mit ihnen anfangen? Sie aufs Regal stellen? Sie in meine himmlische Aussteuerkiste legen? »Da schau her! Jesus hat mir meine Knieschmerzen aufgehoben! Dieser Jesus ist ja so was von fürsorglich …!«
    Doch so, wie Indra es sagt, gefällt es mir irgendwie. Alles, was wir tun, sollte ein Opfer sein, betont sie, von unserem Karma-Yoga im Wantilan bis hin zum Studium der Texte, oder wenn wir aufräumen. Wenn man Yoga macht, sagt sie, ist sogar das Geschirrspülen eine bedeutungsvolle, meditative Tätigkeit. Das gefällt mir.
    Vielleicht betrachtet Su ihre Opfergaben in diesem Licht. Nicht als lästige Pflicht, sondern als Meditation. Als Weg zur Klarheit, oder zu ihrem Gott. Oder vielleicht denkt sie beim Weben der Schächtelchen auch: »Ich hasse meine Brüder. Ich hasse meinen Vater. Ich hasse meine Onkel …«

Später
    Heute Abend haben wir mit unseren Nachbarn Jason und Lara auf der Veranda Tee getrunken. Jason und Lara machen hier auf dem Weg nach Australien Station. Sie stammen aus London und bemühen sich seit zwei Jahren um Einwanderungsvisa nach Australien. »Wir brauchen nur noch zwei Yoga-Lehrer-Diplome«, sagte Jason, »und dann können wir anfangen, so zu leben, wie wir wollen.«
    Jason hat ein sehr liebes Gesicht mit weichen, kindlichen Zügen und strahlend weißen Zähnen. Bei seinem Aussehen sollte er eine Schiebermütze tragen oder die Hauptrolle in Oliver! spielen.
    Er und Lara müssen dieselbe Zahnpasta benutzen, denn sie hat dasselbe Filmstar-Gebiss wie er. Laras Haare sind dünn und dunkelbraun und glänzen wie Kaffee. Ihre Augen sind von einem intensiven Grasgrün und leicht hervorstehend – wenn sie lacht, werden sie so feucht, dass es aussieht, als

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