Bin Ich Schon Erleuchtet
wegträgt, ist das nicht romantisch, sondern erschreckend. Ich will den Gedanken nicht an mich ranlassen, dass aus der Sache mit dem Matrosen etwas werden könnte.
Romantischen Phantasien kann man nicht trauen. Jonah und ich sind echt. Unsere gemeinsame Zukunft, unser Freundeskreis, unsere Verwandten, unsere Pläne.
Was würde wohl meine Familie sagen, wenn ich ihr eröffne, dass ich Jonah – den lustigen, netten, ungefähr gleichaltrigen Jonah – wegen eines grauhaarigen, schweigsamen, achtzehn Jahre älteren Matrosen verlasse? Grundgütiger, die würden mich einweisen lassen. Absurd. Unmöglich. Obwohl … Das ist wahrscheinlich typisch für mich. Ich bin irgendwie nervös – und, wenn ich ehrlich bin, habe ich die Hosen voll.
In wenigen Monaten werden Jonah und ich uns in New York eine Wohnung suchen, und ich werde den Gedanken an andere Optionen, andere Möglichkeiten aufgeben müssen. Dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis wir heiraten. Ich erlebe gerade die letzten Monate meiner Unabhängigkeit. Deshalb sollte ich mir diese Träume und Phantasien lieber gleich aus dem Kopf schlagen. Bali ist der perfekte Ort dafür, hier kann ich sie nicht ausagieren oder mir einreden, sie seien mehr als das, was sie sind – Träume und Phantasien. Illusionen.
Was würde Indra zu meiner Geschichte mit dem Matrosen sagen? Sie will anscheinend, dass ich Jonah verlasse und eine Weile allein bleibe. Gerade heute im Unterricht sagte sie, dass man mit einer anderen Person erst dann richtig zusammen sein kann, wenn man sich selbst gefunden hat.
Ich suche fieberhaft nach mir. Ich tue alles, was Indra mir rät: Tapas, Svadhyaya, sogar Ishvarapranidhana. Lucinda Williams singt es mir vor: I wanna get right with God . Ich will mit Gott ins Reine kommen, selbst wenn Gott nur die Energie ist, die uns alle belebt.
Ich probier’s mal mit Gott.
Und, Gott, wenn es dich gibt, bitte lass mich von Jonah träumen und sonst keinem.
Später
Beim Blättern in meinem Tagebuch las ich ein paar Formulierungen, die so klingen, als ob ich Indra vergöttere. Wenn ich zum Beispiel schreibe, dass sie wie eine Göttin ist, die einst sterblich war, oder so ähnlich. Dabei schüttelt es mich, ich komme mir vor wie die unterwürfige junge Assistentin in Alles über Eva . Klar, ich bewundere Indra. Ich liebe es, wenn sie mich ihr Pflänzchen nennt. Ich will von ihr lernen.
Aber Jessicas Verehrung für Indra geht ein gewaltiges Stück weiter. Sie, Lara und Jason reden darüber, dass Indra wahrscheinlich erleuchtet ist, und Lou auch. Ich kriege dann so ein komisches Gefühl, als wären wir ihr Fanclub. Und das führt dazu, dass ich nach Eigenschaften an Indra suche, die mich ärgern, nur um zu beweisen, dass ich noch halbwegs objektiv bin.
Ein Beispiel: An dem Abend, an dem wir den Mixer-Geist exorziert haben, umarmte Indra uns alle nacheinander zum Abschied, und dabei sagte sie: »Gute Nacht, Schwester Suzanne, gute Nacht, Schwester Jessica.« Ich umarmte sie auch, und weil mir nichts Besseres einfiel, nuschelte ich verlegen: »Nacht, Schwesterindra«.
Ich war nie ein Groupie. Ich hatte nie Mentoren. Ich konnte Autoritätspersonen noch nie leiden. Ich werde also nicht anfangen, Indra zu verehren. Ich will nur so viel wie möglich in ihrer Nähe sein.
Jessica und ich trödelten nach dem Unterricht herum, weil Jessica einen Rat von Indra wollte. Anscheinend ist … ähm … Jessicas pH-Wert im Intimbereich nicht ganz in Ordnung, und sie will wissen, ob Indra gute Hausmittelchen kennt. Ich glaube, Jessicas Worte waren: »Meine Yoni ist unausgeglichen.«
Sorry, aber ich bin nur der Überbringer der Nachricht und bitte darum, nicht gesteinigt zu werden!
Jessica fragte, ob wir Indra privat sprechen könnten, und Indra reagierte – es lässt sich nicht leugnen – ein wenig ungehalten. Vielleicht hatte sie Hunger und wollte schnell weg. Wenn Indra so distanziert ist, erinnert sie mich an meine Mutter, die auch manchmal so geistesabwesend war. Dann hatte ich Angst, sie würde mich nie mehr richtig ansehen oder lieben, und wurde ganz nervös und fahrig. Als stünde ich allein und ohne Pullover draußen in der Kälte.
Indra erklärte sich bereit, uns nach Hause zu begleiten, und streifte sich ein Paar glänzend rote Sneaker-Pantoletten über. Unterwegs berichtete Jessica von ihrer Unausgewogenheit. Indra verzog keine Miene. Nach der detaillierten Aufzählung sämtlicher Symptome verkündete Indra, Jess müsse sich dringend angewöhnen,
Weitere Kostenlose Bücher