Bin Ich Schon Erleuchtet
Neulich hat sie mir, während sie sich mit den Fingern durch das dichte weiße Haar fuhr, erzählt, dass ihr »jede Altersdiskriminierung fern liegt«, aber ich würde die Bedeutung des Mulabandha für die Yoga-Stellungen erst richtig verstehen, wenn ich Kinder geboren hätte. »Eine gesunde Sexualität ist für mein Selbstverständnis von vitaler Bedeutung, denn in meinem Alter ist es leicht, den Angstmustern von Tod und Alter zu verfallen. Wenn ich beim Yoga das Mulabandha setze, muss ich nicht jeden Tag meine Beckenbodenübungen machen. Ich will wirklich niemanden diskriminieren, aber du kannst die Wichtigkeit einer straffen Vagina in deinem Alter einfach noch nicht nachvollziehen.«
Und ich muss sagen, sie hat recht. Offen gesagt, vermeide ich tunlichst jeden Gedanken an eine straffe Vagina und dergleichen. Straffe Vagina klingt für mich noch peinlicher als Yoni.
Aber Macy ist nett, obwohl sie mit ihrem ständigen Gequatsche über Altersdiskriminierung etwas nervt. Ihre Hände machen mich ganz sentimental. Heute lagen sie beim Mittagessen übereinander auf der weißen Tischdecke, und ich konnte den Blick nicht abwenden. Sie unterhielt sich mit Lara und lachte, aber ihre Hände sahen schrecklich einsam aus. Die Finger unter den Ringen sind trocken und rissig, als würden sie zu oft gewaschen. Auf den Handrücken zeigen sich die ersten Sonnenflecken oder Leberflecken oder wie man diese bräunlichen Flecken nennt, und in der Nähe der Handgelenke ist die Haut über den Adern und Sehnen ganz dünn geworden.
Macys Hände sind die letzten Hände, die man hat, bevor man die Hände eines alten Menschen bekommt.
Sie ist so alt wie meine Mutter.
Der Gedanke, dass meine Eltern alt sind, weckt in mir den Wunsch zu sterben, damit ich ihren Tod nicht miterleben muss.
Wenn ich mir vorstelle, so alt wie meine Mutter zu sein, überkommt mich eine lähmende Müdigkeit. Was, wenn sich bis dahin nichts verändert hat? Was, wenn ich fünfundfünfzig bin und immer noch das Gefühl habe, dass mein Leben noch gar nicht angefangen hat?
Ich habe Angst, alles zu verlieren. Dass das Leben vorbei ist, bevor ich es in den Griff bekomme. Ich kann nicht sterben, ohne zu wissen, wozu ich da bin, was das alles bedeutet – ohne wenigstens einen Moment erlebt zu haben, an dem mein Leben sowohl authentisch als auch in das Ganze eingebunden ist.
21. März
Ich habe ein Mantra geübt, von dem mir Bärbel erzählt hat. Wir saßen vor ein paar Tagen auf ihrer Veranda – sie wohnt am Pool, näher an der Straße – und sie wippte auf einem riesigen blauen Gymnastikball. Auf ihrem Tisch stapelten sich Bücher. Sie hat mir, mit der Lesebrille auf der Nase, eine Einführung in die Upanischaden und das Bhagavadgita gegeben. Ihre kurzen grauen Haare sind wirr, als hätte sie jemand gerade liebevoll verstrubbelt.
Bärbel kommt mir vor wie ein weiblicher Jesuit: warmherzig, gelehrt, Humor mit Biss. Ich dachte an Oma und Noadhis Vater und war irgendwie niedergeschlagen. Sie sagte, dass die Buddhisten versuchen, den Tod in allem und jedem zu akzeptieren. Sie sagen: Dem Sterben bin ich unterworfen. Von allem Lieben und Angenehmen muss ich scheiden und mich trennen .
Das erinnert mich an Indras Auftrag, das Sterben zu üben.
Und deshalb sagte ich mir den Spruch immer wieder auf: Dem Sterben bin ich unterworfen, dem Sterben sind meine Eltern unterworfen, dem Sterben sind meine Geschwister unterworfen. Dem Sterben ist Jonah unterworfen.
Soll ich ehrlich sein? Großer Gott, ich werde dieses Tagebuch verbrennen müssen, bevor ich aus Bali abreise. Als ich daran dachte, dass Jonah sterben muss, war ich irgendwie erleichtert. Und das ist so furchtbar, dass ich mich am liebsten dafür umbringen würde. Aber es ist natürlich kein Wunsch. Du lieber Gott, nein. Nein, dahinter steckt eine Frage: Was würde ich tun, wenn ich ungebunden wäre?
Spontan wollte ich hinschreiben: Ich würde das Buch des Matrosen lesen. Aber wenn ich mir das konkret vorstelle, kriege ich Angst. Ich traue mich nicht, obwohl ich weiß, dass es ein bisschen absurd ist. Es ist schließlich nur ein Buch.
Aber ganz stimmt das nicht. Wenn dir jemand ein Buch schenkt, fordert er dich auf, einen Blick in seine Seele zu werfen. Und ich glaube, es wäre nicht gut, noch mehr von der Seele des Matrosen zu sehen. Weil ich Angst habe, es könnte nicht zu meinem Phantasiebild von ihm passen? Oder weil ich das Gegenteil befürchte?
Aber als ich das hinschreibe, merke ich – nichts.
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