Bin isch Freak, oda was?!: Geschichten aus einer durchgeknallten Republik (German Edition)
volles aus.
»Sie haben wohl keinen Durst«, stellt mein Gegenüber mit einem amüsierten Blick auf mein Glas fest und fordert mich dann auf, ihm zu folgen. Ein fester Händedruck scheint hier zum guten Ton zu gehören, und so lerne ich auf der Begrüßungsrunde durch den vollen Raum schnell, mit ausreichend Kraft dagegenzuhalten – einerseits, um meine Hand nicht zerquetschen zu lassen, andererseits, um nicht als Schwächling zu gelten. Denn obwohl ich von solchen gleichgeschlechtlichen Zusammenkünften nur wenig halte, fühle ich mich durch die starke Präsenz der zur Schau getragenen Gruppenidentität etwas in ihren Bann gezogen.
Nach und nach macht mich der Befehlshaber mit den anwesenden Burschen oder Corpsmitgliedern bekannt – ich habe es inzwischen aufgegeben, mich um die richtige Bezeichnung zu bemühen, für mich als Laien ist das zu kompliziert. Mir fällt dabei auf, dass er den Jüngeren gegenüber stets herrisch bis herablassend wirkt, den Älteren aber eine servile Unterordnung entgegenbringt. Die Alten Herren stellen sich mir wahlweise als Juristen, Mediziner oder Geschäftsführer von irgendwas vor und fragen mich, was ich denn studiert hätte: Jura, Medizin oder BWL ? Auf meine Antwort – »Pädagogik« – reagieren sie dann mit einem großväterlichen Lächeln. Bis zum Ende der Vorstellrunde hat der Oberbursche drei große Gläser des süffigen Burschensafts intus und entschuldigt sich erst einmal zur Toilette. Bevor er aufbricht, stellt er sein Glas wieder mit dem Signal für Nachschub auf der Eschenholztheke ab und verschwindet dann. In dem kurzen einsamen Moment an der Bar frage ich mich, ob ich das Zeitreiseportal am Eingang, das mich offenbar in das ausgehende 19. Jahrhundert versetzt hat, übersehen habe.
Dann kehrt der frisch rasierte Fuchs zurück, inspiziert mit einem halb neidischen, halb verachtenden Blick mein stoppliges Kinn und verwickelt mich dann in ein aussichtsloses Gespräch über Gott und die Welt. Als sich die Uhrzeit schließlich dem Veranstaltungsbeginn nähert, verlassen wir die Kneipe und betreten gemeinsam die Eingangshalle, in der es sich Herrmann und Heinrich wieder neben der Couch gemütlich gemacht haben. Unter dem angetrunkenen Gerede der schätzungsweise dreißig Füchse, Burschen und Alten Herren ist das Ticken der Standuhr nun nicht mehr zu hören.
Die breite Treppe zur Galerie quietscht unter meinen Füßen, und nun öffnen sich die Flügeltüren zum Hauptsaal des Corps: ein gewaltiger Raum, dessen hohe Wände ebenfalls mit dunklem Holz vertäfelt sind, an denen noch mehr Porträts hängen. Ein schlichter, aber riesiger Kronleuchter hängt von der mit Stuck verzierten Decke, und zwischen den Ölschinken befinden sich Wandlampen, die ein gemütliches Licht ausstrahlen. An der Stirnseite des Saales befindet sich ein beleuchtetes Rednerpult, auf dem ein Schild mit meinem Namen steht. Beim Anblick der Stuhlreihen erhöht sich meine Herzfrequenz schlagartig, kalter Schweiß tritt auf meine Handflächen: Lampenfieber.
Nachdem sich der Saal mit drei Dutzend Zuhörern gefüllt hat, werde ich kurz vorgestellt und beginne dann mit dem Vortrag. Vorerst läuft es ganz gut, doch nach ein paar Minuten fallen mir zwei Herren auf, die mich während der Rede mit starrem Blick durchbohren. Einer von ihnen sitzt in der Mitte der ersten Reihe. Er ist vermutlich weit jenseits der neunzig, trägt über der Lippe einen fein säuberlich gezwirbelten Kaiser-Wilhelm-Bart und nutzt beide Hände während der gesamten Veranstaltung als Vergrößerung seiner Ohrmuscheln. Obwohl er damit eine eher niedliche Erscheinung darstellen sollte, irritiert mich der Blick aus seinen verschleierten braunen Augen doch sehr. Was hat dieser Greis schon alles gesehen? Rein rechnerisch muss er in den Vierzigerjahren des letzten Jahrhunderts studiert haben, und da außer mir alle Anwesenden Mitglieder der Verbindung sind, wird auch er es sein. Was mag sich in der Historie dieser Villa wohl schon alles zugetragen haben? Welche Rolle hat dieser Alte Herr, der mich gerade anvisiert, dabei gespielt? Während ich rede, schüttelt er von Zeit zu Zeit entschieden den Kopf und schaut mich dann noch ein bisschen böser an. Kalt läuft es mir den Rücken herab.
Der andere Starrer ist bedeutend jünger, sitzt am Rand und ist in einen vermutlich maßgeschneiderten Dreireiher gekleidet. Er fällt aufgrund von zwei Besonderheiten auf: eine kalkweiße Haut und die vollkommene Abwesenheit jeglicher Behaarung. Die
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