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Bin oder die Reise mach Peking

Bin oder die Reise mach Peking

Titel: Bin oder die Reise mach Peking Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
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Tone zu ihm, »wirklich eine sehr wichtige Rolle –«
    Was kümmerte das den Chinesen!
    Als nächstes wusch ich nun die Hände. Herrgott! denke ich, dieweil ich so die Hände seife, am Quietschen des Schaumes mich freue und dann, da es soweit ist, die Gelenke unter einem schmalen Strahl von Wasser drehe: Herrgott! denke ich und trockne die Hände an einem langen Tuch, das mir die wortlose Dienerschaf reicht: Herrgott – wozu das alles?
    Und wieder das nächste:
    Wir sitzen in einem Zimmer.
    »Eigentlich«, sagte ich, nachdem wir eine ganze Weile gesessen hatten, »eigentlich wollte ich nur meine Rolle hier einstellen, im Vorübergehen … Auch habe ich, wenn ich so sagen darf, sehr wenig Zeit.«
    Die Tochter des Hauses, die so viel Güte oder Sitte hatte, mit dem Fremdling zu warten, langweilte sich deutlich, spielte mit ihrem Fächer, während wir warteten; aber sie hatte die königliche Ruhe ihrer Jugend, deren Reich noch so groß, so unabsehbar ist: sie bangt nicht, geizt nicht mit jeder Provinz ihrer Zeit … Draußen war es ein betörender Abend. In den herbstlichen Gärten lag eine Wärme, die nur das Auge noch wahrnimmt und kostet. Die Blumen der Nähe, die letzten im Garten, Astern, welche die sinkende Sonne durchglomm, sie standen wie Sterne aus Blut. Das alles war schön. Es dämpfe mein Warten. Die Luf solcher Abende, sie ist wie ein blinkendes Gespinst, ein Glitzern von goldenen Fäden; geisterhaf rinnt es. Nichts ist zu halten, Wärme und Licht, o alles ist da, irgendwo rinnt es wie durch ein Sieb dieser Zeit. Es sickert in Schwärze der offenen Erde; es sammelt sich nirgends zur Hitze. Umsonst auch ist die Schale unsrer kleinen Hand; immerzu rinnt es … Ich rauchte; ich verschränkte meine Beine, bis ich jedesmal wieder gewahrte, wie schmutzig meine Schuhe waren; dann aber, jedesmal, schob ich die Füße zurück unter den Sessel, klopfe Asche ab, versuchte ein Gespräch:
    »Die Zeit ist ein sonderbar Ding«, sagte ich
einmal, »es gibt sie, und gibt sie auch wieder
nicht –«
»Wie meinen Sie das?«
    Ich mußte nachdenken. Sie nimmt mich zu ernst, dachte ich, und ein wenig ärgerte es mich. Ich mußte wirklich nachdenken.
    »Es gibt sie: ja – und es gibt sie auch nicht: ja – und doch sind wir alle, das ist der Wahnsinn, Sklaven der Zeit!«
    Später fragte ich:
    »Haben Sie auch schon Erinnerungen?« Die kleine Chinesin errötete.
    »Oh«, sagte ich, »so war das nicht gemeint … Jemand sagte mir, daß Dinge, die wir für Erinnerung halten, Gegenwart sind. Es überzeugt. Dann wieder verwirrt es. Denn es nimmt den Dingen, die uns begegnen, schlechterdings die Zeit, und of weiß ich nicht mehr, wo in meinem Leben ich mich eigentlich befinde. Das ist sehr abenteuerlich. Ich treffe Leute, die gar nicht mehr sind, und rede mit ihnen, liebe sie zum erstenmal. Es ist wie das Licht, das immer noch wandernde Licht von Sternen, die vor Jahrtausenden erloschen sind. Immer wieder begegne ich dem Mädchen, so, wie wir uns damals verloren haben; ein Mädchen wie Sie; aber damals, sage ich mir, waren Sie noch kaum auf der Welt. Das alles ist verwirrend. Dabei bin ich, soweit es jedem verliehen ist, bei lichterlohem Verstande; zum Beispiel denke ich of und sage es mir auch: Offenbar sind es Erinnerungen, was du erlebst, nichts weiter, ein neckischer Anfall von Erinnerung, wir reisen durchaus nicht in einem Gefilde mit Seerosen und schwarzen Büffeln, mit Kurtisanen und Goldfischen und Hirten, mit Engeln und Matrosen, und was uns sonst schon alles begegnet ist, sogar Heilige, sogar Tote, sondern ich erinnere mich nur, während ich nebenher ein ganz alltägliches Leben führe, und lange ist's her, und dennoch, indem wir uns eines Hirten erinnern, ist er im Augenblick da. Wer leugnet es? Ich bin glücklich, ich habe keinerlei Anlaß und kann nicht umhin wahrzunehmen, daß ich auf einmal sehr glücklich bin. Zum Beispiel. Oder auch melancholisch, je nachdem. Man weiß nur nicht, wo in seinem Leben man sich befindet.«
    Das Mädchen zog die Brauen:
    »Auch in diesem Augenblick nicht?«
    »Nun«, sagte ich, »in diesem Augenblick –« Ich mußte mich erheben, die Mutter war eingetreten, eine Dame von warmer Würde. Man sah, sie hatte sich gekämmt und uns wohl darum lange warten lassen.
    »Nehmen Sie Platz«, lächelte sie, »mein Mann
wird jeden Augenblick kommen. Er ist auf die
Jagd geritten.«
»Eigentlich«, sagte ich –
    Sie lächelte noch einmal:
    »Nehmen Sie Platz.« Ich gehorchte.
    Man setzte sich, ein

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