Binärcode
löffelte grob geschroteten, in Wasser gequollenen Leinsamen aus einer Tonschüssel. Sie beobachtete, wie er minutenlang konzentriert die Margarine auf seiner Brotschnitte verteilte, bis er auf der gesamten Fläche eine konstante Schichtdicke von einem halben Millimeter hatte.
»Wann musst du zur Nachuntersuchung ?«
Frauen hatten ein perfektes Timing, wenn es darum ging, einen Mann an Dinge zu erinnern, an die er nicht erinnert werden wollte.
»Keine Ahnung, irgendwann nächste Woche, hab’s mir im Kalender notiert .«
Rünz versuchte, das Thema zu wechseln. Er würde seiner Frau von der Diagnose erzählen müssen. Er wusste, was ihn dann erwartete. Sie würde ihre gesamte homöopathische Artillerie in Stellung bringen und ihre Breitseite mit psychologischer Kriegsführung flankieren, ihm erklären, die Entstehung von Tumoren sei auch Ausdruck unbewältigter seelischer Konflikte – der ganze lächerliche neuzeitliche Schamanismus, mit dem sich Gesunde zuweilen vor der Gefahr unheilbarer Krankheiten zu wappnen versuchten. Heute wollte er sich das nicht zumuten. Vielleicht morgen. Oder übermorgen.
»Was hat der Arzt sonst noch gesagt? Die haben dich doch sicher gründlich durchgecheckt. Ist alles in Ordnung ?«
Geschroteter Leinsamen schien telepathische Fähigkeiten zu verleihen – er beschloss, morgens zwei Teelöffel zu essen, damit er beruflich vorankam. Jetzt reichte es nicht mehr aus, etwas zu verschweigen, jetzt musste er lügen, wenn ihm nicht irgendein Zufall zu Hilfe kam. Ein Anruf von Wedel zum Beispiel.
Sein Handy summte. Er zog es aus der Tasche seines Bademantels, nahm das Gespräch an, und sein Assistent sagte am anderen Ende fünf Worte, die einen sofortigen Abbruch des unbequemen Frühstücksplausches rechtfertigten.
»Der Dicke, wir haben ihn .«
Rünz leerte die Kaffeetasse in einem Zug.
»Sorry, ich muss los .«
»Wir müssen heute Abend noch ein paar Sachen einkaufen !«
»Kannst du das nicht allein machen ?«
»Damit du mir nachher die Hölle heißmachst, weil ich nicht ausschließlich Sonderangebote gekauft, die Pfandflaschen nicht abgegeben, die ganzen Gutscheine und Rabattmarken nicht eingelöst und die Pay-back-Punkte nicht habe gutschreiben lassen ?«
»Ist ja schon gut, wir gehen gemeinsam .«
* * *
Bunter dampfte vor Begeisterung und nahm keine Notiz von den beiden Hemdknöpfen, die ihm auf Bauchnabelhöhe offen standen.
»Zwei Bewohner eines Mietshauses in der Ludwigshöhstraße in Bessungen haben sich auf den Artikel in der ›Allgemeinen‹ hin gemeldet. Sie sagen, der Dicke hätte zwei Jahre in ihrem Haus gewohnt, von 2004 bis 2006. Das passt zu der Aussage eines Straßenbahnfahrers, der 2005 die Linie 3 gefahren hat und sich dran erinnern kann, den Typ fast täglich zum Hauptbahnhof gefahren zu haben. Außerdem hatten wir einen Anruf vom European Space Operations Center – aber alles der Reihe nach .«
Rünz massierte sich die Schläfen. Der Heilungsprozess seiner Hornhaut verursachte ihm unerträglichen Juckreiz, es kostete ihn viel Überwindung, nicht permanent die Augen zu reiben. Bunter knallte einen Stapel Faxe und Ausdrucke auf den Tisch, dann zog er ein paar unscharfe Kopien aus dem Stapel.
»Sein Mietvertrag, mit Kopie seines Ausweises. Tommaso Rossi, Italiener, 1960 in Catanzaro, Kalabrien, geboren. Die italienischen und französischen Kollegen waren sehr kooperativ, wir haben eine detaillierte Biografie. Eltern Teresa und Giuliano Rossi. Scuola Materna, Elementare und Media Unica in Catanzaro, 1978 Abschluss an der Liceo Scientifico Statale in seiner Geburtsstadt, Zweitbester seines Jahrgangs. Gleich nach seinem Schulabschluss immatrikulierte er sich an der Politecnico di Milano, Fachrichtung Luft- und Raumfahrttechnik. Er wird ’84 noch vor seinem Diplom von der Alenia Spazio abgeworben, einem italienischen Luft- und Raumfahrtunternehmen. Seit 2006 heißen die TAS, Thales Alenia Space, ein Joint Venture zwischen der Thales Group und dem italienischen Finmeccanica Konzern, beide Global Player in den Bereichen Rüstung, Elektronik, Luftfahrt und Informationstechnologie. Die TAS hat ihr Hauptquartier in Cannes und insgesamt dreizehn Standorte in Italien, Spanien, Frankreich, Belgien und den USA. Rossi hat bis Anfang 2000 im Werk Turin gearbeitet, die bauen dort wissenschaftliche Satelliten zusammen für die European Space Agency, außerdem das ganze Drumherum, technische Ausrüstungen für Bodenstationen, Sende- und
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