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Empfangsanlagen. Mitte 2000 beginnt seine Europatournee, er wechselt zur ESA, European Space Agency, mal verbringt er ein paar Wochen im Hauptquartier in Paris, dann einen Monat bei der ESA-Bodenstation in Villafranca del Castillo bei Madrid, zwischendurch arbeitete er immer wieder Monate beim Space Research & Technology Center in den Niederlanden. Im April 2004 hat er hier in Darmstadt angefangen, beim ESOC, dem European Space Operations Center, drüben im Europaviertel hinterm Bahnhof, bis Mai 2006 war er dort beschäftigt. Er hatte in der Ludwigshöhstraße ein möbliertes Apartment. Die Eigentümerin vermietet die Wohnung fast ausschließlich befristet an ESOC-Mitarbeiter. Sie hat ihn eindeutig identifiziert, sagt, er wäre Ende Juni 2006 ausgezogen. Er hat ihr erzählt, er würde nach Italien zurückgehen. Das stimmt mit dem Melderegister überein, er hat am 3. Juli im Stadthaus ausgecheckt. Zehn Tage später hatte er seinen offiziellen Wohnsitz wieder in Italien, aber nicht mehr in Turin, sondern in seinem Geburtsort Catanzaro, aber er ist dort weder einer sozialversicherungspflichtigen Arbeit nachgegangen noch war er arbeitslos gemeldet .«
»Was ist mit seiner Familie ?« , fragte Rünz.
»Seine Mutter lebt in Lamezia Terme in einem Pflegeheim, sie leidet an Demenz. Die italienischen Kollegen haben heute Morgen versucht, mit ihr zu sprechen .«
»Warum dieser Einbruch nach so einem Karrierestart? Und warum ist er nach Darmstadt zurückgekommen? Nur um auf dem Knell-Gelände jemanden zu treffen, der ihn dann erschießt ?« , fragte Rünz.
»Vielleicht hat er die Stadt nie verlassen .«
»Hatte er hier irgendein Fahrzeug angemeldet? Was ist mit seinen finanziellen Verhältnissen, haben wir Bankdaten ?«
Bunter kam nicht zu einer Antwort. Auf dem Flur rumorte es, Wedel verließ das Zimmer, um nachzuschauen. Er schien mit einer aufgeregten Frau zu diskutieren. Dann ging die Tür auf, er betrat den Raum wieder, Rünz sah auf dem Flur eine völlig zerzauste und verheulte Frau von etwa Mitte 20.
»Chef, die Dame hier ist die Mieterin der Wohnung im Hundertwasserhaus .«
Rünz grübelte konzentriert, ob ihm das irgendetwas sagen musste.
»Sie wissen schon, der Wohnungsbrand am Mordtag. Sie sagt, sie ist gerade erst aus dem Urlaub zurückgekommen und hat ihre Wohnung versiegelt vorgefunden .«
»Ja und? Ist das unsere Baustelle? Soll sich an ihre Hausverwaltung und ihre Versicherung wenden, wir machen hier nur Mord und Totschlag .«
Wedel rollte mit den Augen.
»Das ist es doch, Chef«, sagte er leise. »Sie sagt, sie sucht ihren Freund und Mitbewohner. Tommaso. Tommaso Rossi.«
* * *
Rünz hatte seine Kollegen rausgeschickt. Die junge Frau saß ihm jetzt gegenüber und schlürfte zusammengesunken an einem Automatenkaffee. Sie hatte kurze Haare, eine eher stämmige Figur und nicht gerade filigrane Gesichtszüge – die richtige Statur, um Sex mit dem dicken Italiener ohne größere Frakturen zu überstehen. Er stellte ihr einige Fragen zu Rossis Biografie und Physiognomie, bis er keinen Zweifel mehr an der Übereinstimmung hatte. Sie wurde von Frage zu Frage unruhiger.
Menschen benutzten seltsame Eröffnungen, wenn sie anderen die Nachricht vom Tod eines Angehörigen überbringen mussten – ›Ich muss Ihnen leider mitteilen …‹, ›Ich habe leider keine guten Nachrichten für Sie …‹, ›Was ich Ihnen sagen muss, betrifft Ihren Freund/Mann/Sohn …‹, ›Sie müssen jetzt sehr stark sein‹ – Floskeln, die einen gleitenden Übergang zwischen dem dumpfen Alltag und der emotionalen Hölle der Trauer bieten sollten, und wenn er nur eine halbe Sekunde währte. Rünz hielt nichts von solchen Weichspülern, er war ein gebranntes Kind, seit er einmal unnötig lange herumgesülzt hatte, als er einer alten Dame die Todesumstände ihres Jugendfreundes mitteilen musste. Es existierte keine noch so flauschige Verpackung, die solche Nachrichten erträglicher gestaltete. Subjekt – Prädikat – Objekt, einfach, klar und geradeaus.
»Ihr Freund ist tot .«
Sie schaute aus dem Fenster und wirkte, als hätte sie gar nicht zugehört. Er musterte sie wie ein Wissenschaftler, der sein Versuchstier einem Schlüsselreiz ausgesetzt hatte.
»So ein milder Winter«, flüsterte sie. »So ein milder Winter …«
Dann brachen die Dämme. Sie brauchte eine halbe Stunde, bis sie wieder ansprechbar war. Rünz bot ihr an, jemanden anzurufen, Familie, Freunde, oder sie irgendwo
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