Binärcode
der verarbeiteten Rohmaterialien abhob . Aber der Wert von Kunstwerken errechnete sich nicht aus Rohstoffpreisen, sondern aus Bedeutungszuschreibungen – eine Sprache, die Rünz nie gelernt hatte. Er drehte sich um, sah eine alte Holzkommode in einem Glaskasten. Klappen und Schubkästen standen offen, alles war vollgestopft mit Plunder – Bestecke, Phiolen mit Chemikalien, Haushaltsgegenstände, alte Zeitungen, leere Getränkepackungen, Schokoladenreste. Die Farben waren vergilbt, über allem lag ein graubrauner Schleier. All die Installationen und Arrangements von Alltagsobjekten hatte im Laufe von 30 Jahren eine Patina geadelt, die sie gegen grundsätzliche Zweifel an ihrem künstlerischen Wert zuverlässig immunisierte.
Rünz dachte an Rossi und die ARECIBO-Nachricht. Vielleicht waren der Italiener und all die anderen SETI-Forscher auf dem falschen Weg, wenn sie nach Signalen Ausschau hielten, in denen mathematische oder naturwissenschaftliche Botschaften verschlüsselt waren. Vielleicht suchten die Außerirdischen die Verständigung nicht über Ratio und Logik, sondern über Emotion und Interpretation – also Kunst. Womöglich schickten sie binär kodierte, abstrakte Installationen, Gemälde – oder Musik! Und wie reagierten umgekehrt fremde Lebensformen, wenn sie zum ersten Mal eine Fuge aus Bachs Wohltemperiertem Klavier hörten? Welche Bedeutung würden sie nach der Exposition des Themas all den raffinierten Engführungen, Spiegelungen, Augmentationen und Diminutionen beimessen? Rünz spürte das dringende Bedürfnis, seine Idee mit dem Hobbyastronomen zu diskutieren.
Als sie später nach Hause kamen, steckte ein unfrankierter Umschlag von Stadelbauer im Briefkasten. Rünz machte es sich auf der Couch bequem, öffnete ihn und nahm ein Taschenbuch heraus.
Die Stimme des Herrn
von Stanislav Lem
Lem war polnischer Science-Fiction-Autor, so viel wusste Rünz, aber er hatte dem Genre mit all seinen pubertären Effekthaschereien nie etwas abgewinnen können. Schon der Titel deutete auf ein ermüdendes Fantasyspektakel hin. Anfangs lustlos querlesend blätterte Rünz die ersten Seiten durch – und merkte bald, dass seine Vorurteile nicht bestätigt wurden. Er vergaß seine Chuck-Norris-DVD und verbrachte die halbe Nacht mit dem Buch. Im Kern drehte sich der Plot um die Entschlüsselung einer intelligent modulierten Neutrinostrahlung aus dem All, die durch Zufall im Datenmüll eines Detektors entdeckt worden war. Der Autor hatte Struktur und Organisation des fiktiven US-amerikanischen Forscherteams deutlich angelehnt an Oppenheimers Manhattan-Projekt in den 40er-Jahren, den Kreißsaal der Atombombe. Das eigentlich Faszinierende an dem Roman aber war die kompromisslose Art, mit der Lem das Scheitern der Entschlüsselungsversuche präzise und logisch durchdeklinierte. Je hartnäckiger sich das Signal der Entzifferung entzog, umso bedeutender und übermächtiger wurde es als Projektionsfläche für die Ideale und Sehnsüchte der beteiligten Wissenschaftler. Dabei hatte der Pole keinerlei Konzessionen an das mutmaßliche Bildungsniveau einer möglichst breiten potenziellen Leserschaft gemacht, eine Strategie, die ihm heute kein Verlagslektorat mehr hätte durchgehen lassen. Seine Geschichte basierte auf einem breiten, fachübergreifenden naturwissenschaftlichen Fundament – Rünz musste zum Verständnis aus seiner Erinnerung alle Reste naturwissenschaftlicher Grundbildung zusammensuchen, die ihm von seiner gymnasialen Ausbildung noch irgendwie präsent waren. Er war fasziniert und hatte plötzlich eine Ahnung von der beruflichen Leidenschaft, die all die Mitarbeiter von ESOC, NASA und den anderen Weltraumagenturen bei ihrer Arbeit umtrieb. Wenn Stadelbauer so weitermachte, hatte er bald ein neues Vereinsmitglied. Sein Account Management war über jeden Zweifel erhaben – und sein Zielkunde hieß Karl Rünz.
* * *
Noch eine halbe Stunde bis zum Mittagessen mit Hoven und dem Staatssekretär. Wedel hatte ihm den E-Mail-Eingang mit PDF-Dateien gefüllt, die er von den Internetseiten der ORION Consult heruntergeladen hatte. Quartals- und Jahresberichte für die Investoren, Kundenlisten, Referenzprojekte, den Corporate Governance Codex, Organigramme der gesellschaftsrechtlichen Struktur. Die Arbeitsfelder des Unternehmens hatten kryptische Bezeichnungen wie ›Capability Acquisition‹, ›Human Performance Improvement‹ und ›Technology Support Services‹. Ein Laden ganz nach
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