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Binde Deinen Karren an Einen Stern

Binde Deinen Karren an Einen Stern

Titel: Binde Deinen Karren an Einen Stern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Lukas
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Erfahrung gemacht, dass er trotz seiner schlechten Erfahrungen nicht untergegangen ist, sonst wäre er ja nicht mehr da. Wird ihm diese Einsicht bewusst, könnte ein weiteres Unbewusstes, nämlich das „Vorwissen“ in ihm aufsteigen und zur Bewusstheit gelangen, dass es auch in der Zeit jener schlechten Erfahrungen ein ihn Haltendes gegeben hat, einen Boden seiner Existenz, auf dem er unerschütterlich aufgeruht hat, mitten im Sturm rings um ihn, weil ihn das Leben noch „wollte“ und brauchte. Weil er nach wie vor wichtig und bedeutsam war und ist für das Leben, das sich ihm unbeirrt als Fülle von Verwirklichungsmöglichkeiten darbietet. Es könnte ihm dämmern, dass er wider allen Anschein „erwünscht“ und „bejaht“ ist. Was wiegt schon eine schlechte Erfahrung gegen
diese
Erkenntnis?
    Denken wir im Interesse der praktischen Anschaulichkeit ein weiteres Beispiel durch. Angenommen, Eltern haben einem Jugendlichen versprochen, ihn aus dem Internat heimzuholen. Danach haben sie ihr Versprechen nicht eingehalten, und er musste bis zu seinem Schulabschluss im Internat wohnen. Zweifellos war das, wenn er sich dort ungern aufhielt, eine große Enttäuschung für ihn, eine schlechte Lebenserfahrung, die ihn mitmenschlichen Zusagen gegenüber misstrauisch gemacht hat. Dennoch könnte die schmerzliche Erfahrung ihn ein Zusätzliches gelehrt haben: Man stirbt nicht am Internatsbesuch. Man geht nicht zugrunde am gebrochenen Wort der Eltern. Das Leben ist erstaunlich vielfältig und flexibel, es hört nie auf, Chancen in sich zu bergen. Das Internat hatte am Ende vielleicht sogar ein paar schöne Seiten, indem Freundschaften geschlossen wurden, Gemeinschaft erlebt wurde. Kontakte zu Lieblingslehrern blieben jahrelang bestehen. Irgendwie kann sich die schlechte Erfahrung mit dem nicht eingehaltenen Versprechen der Eltern schließlich zu der guten Erfahrung gewandelt haben, dass das Leben auch außerhalb des Elternhauses weitergeht und bewältigbar ist.
    Steht für den ehemals Jugendlichen im Erwachsenenalter die schlechte Erfahrung mit den Eltern im Vordergrund, wird ihm ein Stück Urvertrauen verlustig gehen. Steht im Unterschied dazu für ihn die gute Erfahrung, die er mit dem Leben gemacht hat, im Vordergrund, wird sich sein Urvertrauen noch festigen. Entweder wird er sich also bis in alle Zukunft an dem Erlebnis festkrallen, von nahestehenden Menschen im Stich gelassen worden zu sein, mit der fatalen Auswirkung, dass sich sein Misstrauenskontingent verschärft, oder aber er wird sich bis in alle Zukunft an der Erkenntnis orientieren, dass er noch als ein von Menschen im Stich Gelassener nicht kaputtgeht, sofern sein Leben aus tieferen Gründen (man könnte auch sagen: nach höheren Plänen) bewahrt bleiben soll, was sein Vertrauensvermögen erheblich stärkt.
    In beiden Fällen, bei der überängstlichen Patientin und dem Mann, der als Jugendlicher gezwungenermaßen ein Internat besuchen musste, sind tiefenpsychologisch gravierende Traumata rekonstruierbar. Auch lerntheoretisch sind in beiden Fällen erfolgte Fehlkonditionierungen nachweisbar. Denn überall ist einst
Unerwünschtsein
wie ein Messer in die Seele der betreffenden Person eingedrungen und hat sich ihr als schwer zu verheilende Wunde verdeutlicht. Dennoch gab es „selbst auf gleicher Ebene“ daneben überall Liebesbeweise. Die Eltern der Patientin haben sie als Baby akzeptiert und großgezogen. Und dies eine wesentlich längere Zeit lang, als sie sie als Ungeborenes abgelehnt haben! Die Erzieher des Internats wiederum haben sich um den Jugendlichen gekümmert, und auch dies für eine lange Zeit. Und seine Eltern haben regelmäßig dafür bezahlt. Natürlich waren es da wie dort keine idealen Verhältnisse, aber der Anspruch auf ideale Lebensverhältnisse ist wohl insgesamt zu hoch gegriffen.
    Beziehen wir
mehr
als das häusliche Milieu der beiden Menschen in unsere Erwägungen mit ein, dann entdecken wir im Zuge der Gesamteinschätzung beider Beispiele, dass
ein
„Versprechen“, eine „Zusprechung“ nirgends verletzt worden ist: der unbedingte Wert der Person und der unbedingte Sinn ihrer Existenz. Weder ein gelungener, noch ein misslungener Tötungsversuch vermögen die Personenwürde eines Menschen zu beschädigen. Ein Leben im Internat besitzt nicht einen Hauch weniger Sinn als ein Leben außerhalb eines Internates. Die Werthaftigkeit der Person und die Sinnhaftigkeit ihrer Existenz sind keine Güter, die irgendwer einem anderen missgönnen

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