Binding, Tim
würde. Das
Wohnzimmer lag, wie sie sagte, im ersten Stock und ging über die gesamte Länge
des Hauses. Irgendwie nicht einleuchtend, dass eine fünfundsechzigj ährige Frau
die Treppe hochsteigen musste, nur um gemütlich eine Tasse Tee trinken zu
können - bis man sie besser kennenlernte. Von da oben konnte sie nämlich alles
wunderbar sehen, die Vorder- und sogar die Rückseite vom Spread Eagle unten an
der Straße und den kleinen Dorfpark dahinter.
Ich war im Laufe der Jahre ein paarmal mit ihr aneinandergeraten.
Zuerst hatte sie was gegen meine Karpfenhaltung gehabt, meinte, es sei
grausam, die Fische auf so engem Raum zu halten, aber als ich sie ihr zeigte
und sie sehen konnte, wie gesund sie aussahen, hatte sie ein Einsehen. Nicht
hundertprozentig, aber sie sah, dass ich sie so gut behandelte, wie ich konnte.
Das war das Merkwürdige an Alice. Die meiste Zeit war sie wie ein Frettchen auf
zwei Beinen, wollte einfach nicht klein beigeben, aber trotzdem hatte sie
irgendwas an sich, was ich sympathisch fand. Sie hatte Prinzipien. Sie war
ständig mit irgendwelchen Projekten beschäftigt, unsinnigen Projekten,
ärgerlichen Schnüffelnase-Projekten. So versuchte sie einmal, die Guy Fawkes'
Night für Kinder verbieten zu lassen. Gewaltverherrlichung sei das, meinte sie.
Im Sommer patrouillierte sie auf den Parkplätzen und suchte in den Autos von
Tagesausflüglern nach Hunden, denen die Zunge raushing. Wenn sie fündig wurde,
holte sie einen kleinen Geologenhammer hervor und schlug eine Scheibe ein. Sie
hatte sich deshalb mehr als einmal eine Anzeige eingehandelt, aber das kümmerte
sie nicht. Sie war natürlich Vegetarierin, und sie reichte beim Gemeinderat
Beschwerde ein, weil Kim die Hummer bei sich zu Hause im Garten lebendig in den
Kochtopf warf. Sie hatte nicht unrecht. Zwanzig im Topf, und du konntest sie
regelrecht kreischen hören, wie Fingernägel auf einer Schiefertafel. Sie
kriegte Albträume davon, behauptete sie, aber die Ratsmitglieder ließen sich
nicht beeindrucken. Na, was glauben Sie wohl, woher die ihre Hummer bekamen?
Einmal hatte Kim einen richtig großen gefangen, bestimmt zwanzig, dreißig Jahre
alt, so riesig wie der war, und er stellte ihn zwei Tage zur Schau, auf einer
Marmorplatte, wo das Vieh dann hockte wie ein alter Vater Neptun, mit den
Fühlern winkte und, seinem Element entrissen, verloren wirkte, aber dennoch
würdevoll durch sein Alter. Uns allen tat der alte Knabe irgendwie leid, der
so weit gekommen war, bloß um auf dem Tisch von irgendeinem Blödmann als Hummer
Thermidor zu enden, aber nur Alice sagte, es sei nicht richtig, und wollte ihn
kaufen, um ihn runter zur Bucht zu bringen und freizulassen. Aber Kim wollte
ihn ihr nicht verkaufen, sosehr sie ihn auch anflehte, so viel sie ihm auch
bot. Er wollte mal erleben, wie so ein altes Biest schmeckt, sagte er mit
anzüglichem Unterton zu ihr. Unangebracht, dachte ich. Respektlos. Und wissen
Sie, was ich gemacht hab? Ich hab ihn gekauft.
Kim hab ich erzählt, ich würde ihn grillen und das halbe Dorf einladen, doch
stattdessen fuhr ich mit Alice an den Strand, und zusammen sahen wir zu, wie der
alte Knabe zurück ins Meer krabbelte. Wie ein in die Jahre gekommener
Balletttänzer war er, mit seinen wulstigen Schenkeln. Seitdem ließ sie sich
ausschließlich von mir fahren. Sie änderte sogar Termine, wenn ich keine Zeit
hatte. Gute Kundenbindung nannte Audrey das und meinte, ich sollte mir bei
allen Kunden die gleiche Mühe geben, aber damit hatte es nichts zu tun. Ich tat
es nicht aus geschäftlichen Gründen. Ich tat es, weil mir ihr aufrechter Geist
gefiel und weil sie die Würde in jenem Mitgeschöpf gespürt hatte. Auch sie war
ein Relikt, und das konnte ich nachfühlen. Kim dagegen, Kim sprach über einen
Monat kein Wort mehr mit mir.
Ich klingelte. Die Tür sprang auf. Alice musste direkt dahinter
gestanden haben. Sie hatte ein seltsames Lächeln an sich, wie von jemand
anderem ausgeliehen. Sie trug eine von diesen bestickten tibetischen Mützen,
dazu eine Mao-Jacke mit Schultertuch, eine lange schwarze Hose aus seidener
Baumwolle und an den Füßen kleine schwarze Slipper. Nicht ihr übliches Outfit.
Sie wirkte, ja wie eigentlich? Entspannt, aber irgendwie schwungvoll. Sie
holte tief Luft.
»Time is a jet plane«, sagte sie.
»Bitte?«
»Die Zeit ist ein Düsenjet.« Sie tippte auf ihre Armbanduhr.
»It moves too fast, sie fliegt zu schnell.«
Ich wusste nicht, was sie hatte. Und wenn ich sie so
ansah, fragte ich
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