Bindung und Sucht
Interpretations- undVerhaltensmuster, die vorher nicht verfügbar waren, in der therapeutischen Beziehung zu explorieren und zu erarbeiten (vgl. Grossmann & Grossmann 1995). Damit hilft der Therapeut dem Patienten, die für eine sichere/autonome Bindungsrepräsentation charakteristische Autonomie und Freiheit in der Bewertung und Integration früherer Bindungserfahrungen zu erlangen.
Explizit sieht Bowlby das Ziel des therapeutischen Vorgehens darin, Bedingungen zu schaffen, in denen der Patient seine inneren Arbeitsmodelle von sich und von seinen Bindungsfiguren hinterfragen und sie anhand der Einsichten, die er aus neuen Erfahrungen und der Beziehung zum Therapeuten gewonnen hat, neu bewerten und neu strukturieren kann (Bowlby 1988 a, S. 138).
Gleichzeitig kann davon ausgegangen werden, dass Personen mit sicheren Bindungserfahrungen und sicheren Arbeitsmodellen für dieses therapeutische Vorgehen gute Voraussetzungen mitbringen. Carlson und Sroufe (1995, S. 605) formulieren es so:
»Menschen mit sicherer Bindungsentwicklung können aber dennoch psychische Belastungen erleiden. Da sie aber gelernt haben, ihre Emotionen wirksam zu steuern, und sich darauf verstehen, sich Aufmerksamkeit und Zuwendung zu holen, kann man davon ausgehen, dass sie sich angesichts solcher belastender Erfahrungen mit Erfolg um Unterstützung in ihren Beziehungen zu anderen bemühen werden. Eine Bindungsgeschichte, die von vertrauensvollen Beziehungen, von unmittelbarer emotionaler Kommunikation, von Flexibilität und Offenheit gegenüber Informationen und von der Fähigkeit geprägt ist, sich über die mentale Verfassung der eigenen Person wie auch anderer Menschen klarzuwerden, ist ein guter Ausgangspunkt, um unwirksame Anpassungsmuster abzuwandeln und traumatische oder Verlusterfahrungen zu bewältigen.« (Übers.: Ulrike Stopfel)
Integriert man diesen Ansatz in die entwicklungspsychopathologische Sichtweise, so entspricht er der zuvor im Abschnitt »Die entwicklungspsychopathologische und die bindungstheoretische Perspektive« dargestellten Sichtweise von Spangler und Zimmermann (1999), wonach eine sichere Bindungsrepräsentation in drei unterschiedlichen Entwicklungspfaden – sichere Bindung als Ausgangspunkt eines Entwicklungspfades zu Kompetenz, sichere Bindungsorganisation als Risikopuffer, sichere Bindungsorganisation als Einflussfaktor auf Therapie und Intervention – als Schutzfaktor wirken kann.
Folgende Fragestellungen für die vorliegende Untersuchung lassen sich entwickeln:
1.) Welche Bindungsrepräsentation weisen essgestörte Patientinnen zu Beginn einer viermonatigen tagklinischen Therapie auf?
2.) Gibt es Zusammenhänge zwischen dem Ausmaß der Essstörungssymptomatik und der Bindungsrepräsentation?
3.) Gibt es Zusammenhänge zwischen der Bindungsrepräsentation der Patientinnen zu Beginn der Therapie und einem Therapieabbruch?
4.) Kann anhand der Bindungsrepräsentation zu Beginn der Therapie die Besserung und die Prognose für die Zeit nach der Therapie vorausgesagt werden?
5.) Zeigen sich während der viermonatigen Therapie Veränderungen der Bindungsrepräsentation, erhoben zu Beginn und am Ende der Therapie?
Methoden
Stichprobe
Berichtet wird hier von einer Studie, deren klinische Stichprobe aus Patientinnen des Therapie-Centrums für Essstörungen (TCE) des Max-Planck-Institutes für Psychiatrie in München besteht, die im Jahr 2001 an einer viermonatigen, teilstationären Therapie teilgenommen hatten. Im TCE werden jährlich vier Patientengruppen zu je 24 Patienten aufgenommen, mit einem gemeinsamen Therapiebeginn und Ende. Die Patienten nehmen während der vier Monate täglich an der Therapie im TCE teil, die nach einem festen Zeitplan verschiedene gruppentherapeutische Elemente wie z. B. Essenstraining, Verhaltenstherapie, Kunst- und Tanztherapie, aber auch soziales Training vorsieht.
Die Stichprobe bestand aus zwei Gruppen mit insgesamt 47 essgestörten Patientinnen. Entsprechend den DSM-IV- und ICD-10-Kriterien wurde bei 18 Patientinnen eine Anorexia nervosa (AN) diagnostiziert, 25 erfüllten die Kriterien einer Bulimia nervosa (BN) und vier erhielten die Diagnose einer nicht näher bezeichneten Essstörung (NNB), davon wurden jedoch entsprechend ihrer vorherrschenden Symptomatik zwei Patientinnen der anorektischen und zwei der bulimischen Gruppe zugeordnet, so dass die anorektische Gruppe aus 20 und die bulimische Gruppe aus 27 Patientinnen bestand. Das durchschnittliche Alter der Patientinnen
Weitere Kostenlose Bücher