Bindung und Sucht
erhöhter Spannung oder affektiver Erregung vor der Handlung« (APA 2000, S. 663). Das lässt sich insofern auf unkontrolliertes Sexualverhalten beziehen, als Spannung oder Erregung ein sexuelles Verhalten auslösen können, das momentan Lust, Erleichterung oder Befriedigung verschafft, gefolgt von Bedauern, Schuldgefühlen oder Selbstanklagen (Goodman 2001; Guigliano 2009; Koob 2006; siehe Abb. 1). Eine Kritik an diesem Modell lautet, dass unkontrolliertes Sexualverhalten sich häufig als ein vorbedachtes oder geplantes Verhalten erweist und nicht als spontane Handlung (Levine 2010; Samenow 2010).
Abb. 1: Der Zyklus der gestörten Impulskontrolle (nach Koob 2006, S. 106).
Sexualzwang
Nach dem Modell der sexuellen Zwanghaftigkeit wiederum sieht sich das Individuum zu unkontrolliertem Sexualverhalten genötigt, um negative Affektzustände wie etwa Angst zu reduzieren (Goodman 2001). Guigliano (2009, S. 285) unterscheidet Zwänge oder »Verhaltensweisen oder mentale Handlungen« und Obsessionenoder »Vorstellungen, Gedanken, Impulse, Bilder«, die alle dazu dienlich seien, Angst zu reduzieren oder zu verhindern. Nach diesem Modell bereiten sexuelle Obsessionen der betroffenen Person Kummer und Schmerz, die wiederum zu einem repetitiven Sexualverhalten führen. Auf das unkontrollierte Sexualverhalten folgen weitere sexuelle Obsessionen, womit sich der Kreislauf fortsetzt (Koob 2006; siehe Abb. 2). Eine Einschränkung, was die Konzeptualisierung unkontrollierten Sexualverhaltens als sexuellen Zwang angeht, besteht nach dem DSM-IV-TR (APA 2000) darin, dass das jeweilige Verhalten, um als Zwang klassifiziert werden zu können, eben nicht Lust oder Befriedigung hervorrufen darf – was bei unkontrolliertem Sexualverhalten in der Regel aber doch der Fall ist (Goodman 2001).
Abb. 2: Der Zyklus der Zwangsstörung (nach Koob 2006, S. 106).
Sexsucht
Würden die geltenden Kriterien des DSM-IV-TR für Suchtmittelabhängigkeit auf unkontrolliertes Sexualverhalten angewandt, dann bedürfte es für diese Diagnose zumindest dreier der nachstehenden, für die Spanne der zurückliegenden sechs Monate gegebenen Voraussetzungen: der Toleranzentwicklung, einer Entzugssymptomatik, der Auffälligkeit des Verhaltens, des Unvermögens – trotz wiederholter Versuche –, dem Verhalten ein Ende zu bereiten, eines erhöhten Zeitaufwands zur Vorbereitung auf unkontrolliertes Sexualverhalten bzw. zur anschließenden »Regeneration«, der Vernachlässigung wichtiger Tätigkeiten zugunsten von unkontrolliertem Sexualverhalten und des fortgesetzten unkontrollierten Sexualverhaltens trotz des damit einhergehenden Unglücks (APA 2000).
Uneinigkeit herrscht allerdings bezüglich der Frage, ob belohnende Erfahrungen wie Sex überhaupt eine Sucht darstellen können, da sie ja nichts mit der Einnahme von chemisch-verändernden Substanzen zu tun haben. Manche Forscher befürworten die Aufnahme prozessgebundener Süchte in das DSM mit dem Argument, dass Sucht vielfältige Ausdrucksformen, aber die gleiche Ätiologie (d. h. biopsychosoziale Faktoren) habe (Shaffer et al. 2004). Hinter diesem Vorschlag steht der Umstand, dass jede wahrgenommene Belohnung zur Dopamin-Transmission im Nucleus accumbens führen kann, dem Lustzentrum desGehirns, das ein fortgesetztes Verhalten verstärkt (Cozolino 2006; Perry 2005). Folglich kann jede auf chemischem Wege verändernde Erfahrung in einem dafür empfänglichen Gehirn so süchtigmachend sein wie eine chemisch verändernde Substanz.
Allerdings kann der Begriff »Sucht« (addiction) dafür sorgen, dass andere wichtige Determinanten wie z. B. das Maß an Unglück oder Schädigung, subjektivem Leid und funktionaler Beeinträchtigung übersehen werden, und häufig ist dieser Begriff auch wertlastig und stigmatisierend (Samenow 2010). Auf ebendiese Schwierigkeiten war man bereits im Zusammenhang mit der Diagnose der Drogensucht (substance addiction) gestoßen, die im DSM-IV (APA 2000) dann als Missbrauch oder Abhängigkeitsstörung (abuse bzw. dependence) bezeichnet wurde. Forschungsergebnisse legen den Gedanken nahe, dass unkontrolliertes Sexualverhalten nicht immer mit Suchtaspekten verbunden ist und unterschiedliche Motivationen, Erfahrungen und Verhaltensweisen einschließt. So kommt etwa Levine (2010) in seinem Bericht über eine kleine Stichprobe von Männern (n = 30), die mehr als fünf Jahre lang als sexsüchtig galten, zu dem Ergebnis, dass 75 % dieser Probanden die Kriterien für Sexsucht nicht erfüllten.
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