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Bindung und Sucht

Bindung und Sucht

Titel: Bindung und Sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Heinz Brisch
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Vielmehr hatten 25 % dieser Männer eine »Paraphilie«, also eine psychische Störung im Sinne eines normabweichenden Verhaltens, während die Probleme weiterer 50 % von ihnen unklar waren. Das macht eine alternative Konzeptualisierung gegenüber derjenigen der Sucht erforderlich, denn diese Probanden zeigten ein weites Spektrum sexueller Verhaltensweisen (z. B. Masturbation beim gleichzeitigen Betrachten pornografischen Materials, Besuche in Strip-Lokalen), die zwar ihre Partnerinnen bekümmerten, Suchtelemente aber nicht einschlossen. Auch Reid und Carpenter (2009) fanden in ihrer Stichprobe von behandlungssuchenden Männern (n = 152) keinen Hinweis auf suchtartige Tendenzen; ihr Schluss lautete, dass es sich um eine bunt gemischte Gruppe mit zumeist »normalen« psychologischen Profilen handele.
Unkontrolliertes Sexualverhalten (OCSB)
    Seit einigen Jahren trifft die Vorstellung eines allumfassenden Begriffs wie etwa »Out of Control Sexual Behaviour« (OCSB) unter Klinikern und Forschern auf Zustimmung, weil es ungeachtet der Fortschritte in der laufenden nosologischen Debatte nach fast 30 Jahren noch immer an einem empirischen Konsens fehlt (Bancroft & Vukadinovic 2004; Gold & Heffner 1998; Goodman 2001; Kingston & Firestone 2008). Ein übergreifender Begriff wie unkontrolliertes Sexualverhalten trägt diesem Mangel an Konsens Rechnung und deckt die Vielzahlmonolithischer Begriffe ab, die zur Beschreibung eines solchen Verhaltens herangezogen werden, solange es an gezielteren Forschungsbemühungen zu diesem komplexen Konstrukt fehlt. Bancroft und Vukadinovic (2004) sind der Ansicht, dass diese weiterreichende Forschung notwendig ist, bevor ein Konsens erreicht werden kann, da es ja unterschiedliche Formen von OCSB mit je spezifischen ätiologischen Determinanten geben könnte, und dass weitere Bemühungen erforderlich sind, um diese Unterarten zu differenzieren. Damit erweist sich »unkontrolliertes Sexualverhalten« als der gegenwärtig bestgeeignete Begriff. Um die Dinge zu vereinfachen, werden wir, statt die unterschiedlichen Begriffe zu gebrauchen, wie sie von anderen Theoretikern verwendet werden, etwa Hypersexualität und Sexsucht, hier immer von unkontrolliertem Sexualverhalten sprechen.
Vorläufige Definition
    Unkontrolliertes Sexualverhalten kann für Leidensdruck und/oder Beeinträchtigungen bei den davon betroffenen Personen und ihren Familien sorgen (Reid & Woolley 2006). Formell definieren Reid und Woolley unkontrolliertes Sexualverhalten (OCSB) als »Schwierigkeiten mit der Regulierung (d. h. der Verminderung oder Unterdrückung) sexueller Gedanken, Gefühle oder Verhaltensweisen, die negative Folgen für die betroffene Person oder für andere Personen mit sich bringen. Das Verhalten verursacht ein signifikantes Maß an persönlichem oder zwischenmenschlichem Leid und kann Aktivitäten einschließen, die mit persönlichen Ansichten und Wertvorstellungen bzw. mit angestrebten Zielen nicht zu vereinbaren sind. Das Verhalten kann als fehlangepasster Bewältigungsmechanismus funktionieren (dann soll es zur Vermeidung emotionalen Schmerzes oder zum Spannungsabbau dienen) und mit weiteren psychopathologischen oder neurologischen Beeinträchtigungen verbunden sein« (S. 220).
    Die Schlüsselelemente dieser Definition – Leid, Stress und Beeinträchtigung, erfahren an der eigenen Person oder erlitten von anderen Personen, als Folge sexueller Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen – finden die Zustimmung der meisten Forscher, die auf diesem Gebiet tätig sind (Black et al. 1997; Goodman 2001).
    Ob unkontrolliertes Sexualverhalten gegeben ist, bestimmt sich also dadurch, dass die betreffende Person und ihre Familie Leid und Beeinträchtigung erfahren, nicht aber durch die Art oder Häufigkeit der jeweils geübten sexuellen Aktivität, es sei denn, das betreffende Verhalten wäre gefährlich oder illegal; in diesem letztgenannten Fall wären die Kriterien für Leid oder Beeinträchtigung derBeteiligten wahrscheinlich erfüllt (Goodman 2001). Das ist zum Teil deshalb so, weil die Erfahrungen, die ein Mensch im Laufe seiner Entwicklung macht, das Vorbild seiner Eltern, seine Sexualerziehung, sein religiöser und kultureller Hintergrund sowie das herrschende gesellschaftliche Klima sämtlich von Einfluss darauf sind, ob bestimmte Formen des sexuellen Verhaltens als »normal« betrachtet werden oder nicht (Coleman 2007; Zoldbrod 1998). Diese individuellen, beziehungsrelevanten und gesellschaftlichen Faktoren

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