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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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Turnsaal einer alten Schule in San Francisco. Lena wartete die ganze Unterrichtsstunde auf dem Gang, und als die Anhänger der östlichen Lehre am Zusammenpacken waren, ging sie hinein und sprach den Yogi direkt an:
    »Sagen Sie, können Sie eigentlich fliegen?«
    Der Yogi antwortete ruhig:
    »Ja.«
    »Großartig, Sie habe ich gesucht! Können Sie mir sagen, wie das geht?«
    »Magst du deine Füße nicht benutzen?«
    Lena setzte sich zu ihm auf den Boden. Sie hatte ihm so viel zu sagen.
    »Doch, ich gehe gern. Ich studiere Sport, mache Valeologie. Das nur nebenbei. Was ich sagen wollte: Ich glaube, ich kenne eine Frau, die wirklich fliegen kann.«
    »Und was willst du von mir?«
    »Ich will fragen, ob das überhaupt möglich ist, oder ob ich den Verstand verliere. Ich mache mir wirklich Sorgen um meinen Verstand.«
    Der Yogi breitete sich in der Totenstellung auf dem Boden aus. Dabei legt man sich einfach hin, verlangsamt seine Atmung und stellt sich vor, man sei tot. Angeblich fühlt sich das sehr schön an und alle irdischen Probleme werden mit einem Mal unwichtig.
    »Hören Sie mir zu?«, fragte Lena den »Toten«. »Das ist sehr wichtig für mich.«
    »Ich wüsste nicht, dass es in der Stadt noch andere Yogis gibt. Das wäre mir bekannt.«
    »Ich habe nicht behauptet, dass sie ein Yogi ist. Na ja, das heißt, ich weiß es nicht. Ich habe sie nicht gesehen. Vielleicht hat sie es sich irgendwie zufällig beigebracht. Wäre so was möglich?«
    »Nein, dafür muss man lange üben.«
    »Wie lange?«
    »So zehn bis zwanzig Leben.«
    »Und was muss man machen? Wie lernt man das?«
    »Man muss Yoga machen.«
    »Und ohne Yoga kann man nicht fliegen?«
    »Nein.«
    Der Yogi stand auf. Er war um zwei Köpfe größer als Lena und kräftig gebaut. Nicht gut aussehend, er erinnerte sie eher an einen Wolf. Er war grimmig, ernst und schaute unfreundlich, aber irgendwas an dieser Unfreundlichkeit fand Lena anziehend.
    »Ich dachte, was ist, wenn er mein Schicksal ist?«, gab Lena später zu. »Ich bin aufgesprungen, habe meinen Jeansrock zurechtgezupft, mir mit gespreizten Fingern durchs Haar gekämmt, damit es lockerer fällt, obwohl ich es seit über einer Woche nicht gewaschen hatte.«
    »Wie heißt du?«, fragte der Yogi.
    »Lena«, sagte sie mit breitem Grinsen.
    »Ich lächle sehr selten«, würde sie später sagen. »Mein Lächeln steht mir nicht. Meine Zähne sind zu groß, sie passen manchmal nicht alle in meinen Mund. Deshalb mache ich bei jeder Gelegenheit einen nachdenklichen Gesichtsausdruck, als würde ich überlegen, welchen Weg ich wählen soll: den des gerechten Märtyrers oder den des stolzen und unbesiegten Prometheus.«
    Lena konnte das Lächeln nicht zurückhalten und präsentierte dem Yogi die ganze Reihe ihrer windschiefen Zähne.
    »Ich heiße Lena. Und Sie?«
    »Pawlo.«
    »Freut mich.«
    Pawlo, der Yogi, zog seinen Pullover an. Seine treue Anhängerschaft war schon längst gegangen, und er selbst wollte sich allem Anschein nach auch auf den Weg machen.
    »Warten Sie, haben Sie es denn eilig?!«
    »Ich hab’s nie eilig.«
    »Ich beeile mich immer. Und trotzdem komme ich jedes Mal zu spät.«
    »Das ist ein großer Fehler.«
    Lena schlug das »Goldfisch« vor:
    »Gehen wir was trinken? Ich lade Sie ein.«
    »Was ist das ›Goldfisch‹?«
    Jeder in der Stadt kannte das »Goldfisch«, nur der Yogi nicht. Lena wurde stutzig, ja fast traurig. Menschen, die aus Überzeugung keinen Alkohol tranken, waren ihr suspekt. Erstens sind solche Leute furchtbare Langweiler, sagte sie, und zweitens unehrlich, man kann sich nicht auf sie verlassen.
    »Dort gibt’s das billigste Bier in der ganzen Stadt. Sie müssen es doch kennen! Die Bar heißt ›Goldfisch‹.«
    »Nein, die kenne ich nicht, ich trinke keinen Alkohol.«
    Lena seufzte enttäuscht:
    »Dann zeige ich es Ihnen.«
    Aus irgendeinem Grund wehrte sich der Yogi nicht. Im »Goldfisch« bestellte er einen Apfelsaft. Lena bestellte Bier und schlug die Beine übereinander. Das war so ziemlich der einzige Verführungstrick, den sie kannte, doch der Yogi zeigte keinerlei Reaktion.
    »Können Sie wirklich fliegen?«, fragte Lena.
    »Nein.«
    »Warum haben Sie dann gesagt, dass Sie es können?«
    »Ich dachte, du meinst das Meditieren.«
    »Ich sage immer genau, was ich meine. Hätte ich mich fürs Meditieren interessiert, hätte ich auch danach gefragt. Fliegen und Meditieren sind aber zwei verschiedene Paar Schuhe, oder?«
    »Nein.«
    Lena seufzte wieder resigniert.

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