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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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Der Yogi begann sie zu nerven.
    »Sie behaupten also, Fliegen ist rein körperlich unmöglich?«
    »Nein, wieso, es ist durchaus möglich. Aber wozu?«
    »Was heißt wozu? Um zu fliegen!«
    »Der Mensch kann doch viel mehr. Fliegen ist nur eine Spielerei.«
    »Was soll es da noch mehr geben?«
    Der Yogi zuckte schweigend mit den Schultern. »Wenn jemand beredt schweigt«, schrieb Lena später, »muss das nicht immer heißen, dass er auch intelligent ist. Es heißt nur, dass er keine Antwort weiß. Und das wird mir keiner ausreden können.«
    »Herr Yogi«, sagte Lena, »es gibt da eine Frau, die, glaube ich, fliegen kann. Und Leuten in kritischen Situationen hilft. Sie fliegt hin und rettet sie. Wie im Kino, Tatsache.«
    »Und?«
    »Nichts und. Ich hatte gehofft, Sie wissen irgendwas darüber.«
    »Nein, ich weiß nichts.«
    »Und Sie haben keinen Tipp, wo sie das gelernt haben könnte?«
    »Nein. So was interessiert mich nicht. Das ist Stümperei.«
    Lena konnte sich nicht mehr halten:
    »Und Sie sind ja so wahnsinnig professionell! Was haben Sie denn schon geleistet? Diese Frau hilft den Leuten, und Sie?«
    »Wer sagt, dass man den Menschen helfen muss?«
    »Manchen schon!«
    Lena begann vor Frustration zu weinen, erklärte aber später, sie habe Tränen in den Augen gehabt, weil sie sich am Bier verschluckt hatte. Man konnte sie verstehen. Ihre Suche nach Wundern endete im Fiasko.
    Pawlo, der Yogi, winkte die Kellnerin herbei und bezahlte seinen Saft.
    »Auf Wiedersehen!«, sagte Lena mit tränenerstickter Stimme.
    »Wohl kaum«, antwortete der Yogi und tauchte ins verrauchte Zwielicht von Samsara.
    Die Kellnerin aus dem »Goldfisch« erzählte einer Freundin am nächsten Morgen:
    »Ich habe noch nie erlebt, dass ein Mädel sich allein so besäuft. Ihr Typ hat sie verlassen. Ich habe ihn gesehen, nichts Weltbewegendes. Aber sie ist völlig ausgerastet. Sieben Bierkrüge hat sie zerschmettert, zwei Tische umgekippt und unseren Barkeeper als impotent beschimpft, obwohl das gar nicht stimmt. Und dabei hat sie die ganze Zeit geheult: ›Zeig dich, zeig dich nur ein einziges Mal!‹ Keine Ahnung, mit wem sie da geredet hat und wen sie sehen wollte.«

8    Wie sie Kleines beschützte, damit das Große nicht angegriffen wird
    Die Zeiten ändern sich, sagte Lena, aber niemals so, wie wir es uns vorstellen. Deshalb ist es wichtig, sich selbst zu verändern. Auf die Zeit pfeifen, damit sie sich nicht willkürlich einmischt und Monster aus uns macht.
    San Francisco veränderte sich sehr. Es wurde wohlhabender und schöner. Einige Secondhand-Großmärkte, die Waren zum Kilopreis anboten und die von den Massen gestürmt wurden, öffneten ihre Tore. Die Straßenmärkte leerten sich. Man trug jetzt lieber gebrauchte Sachen aus Europa als neue aus China. Lena freute sich: Das war ein gutes Zeichen. Die Stadt wirkte gleich viel europäischer. An jeder Straßenecke hing Werbung für »Kleidung aus Europa«, »Billige Kleidung aus Europa« und »Modische Kleidung aus Europa«. Europa hielt hier schleichend, aber unaufhaltsam Einzug. In den Straßen von San Francisco sah man immer häufiger Menschen, die anders gekleidet waren als der Rest. Besonders stachen die bunten Schals, die sich um die Hälse der Bewohner ringelten, ins Auge. Lenas Schrank platzte ebenfalls aus allen Nähten, denn für eine Hrywnja konnte man eine ganze Sammlung an Schals bekommen. Und genau das wollte Lena, sie kaufte Schals, wo sie nur konnte. Manchmal gelang es ihr, zwei Schals zu kaufen und zwei andere mitgehen zu lassen. Lena band sich gern zwei Schals gleichzeitig um den Hals. Sie sagte, sie fühle sich sicherer so.
    Um bei der Wahrheit zu bleiben: Die »europäische« Kleidung stank erbarmungslos nach Chemie, mit der die eingeführten Secondhand-Klamotten desinfiziert wurden. Der grausige Mief haftete an allen Menschen, hing in allen Wohnungen und in der ganzen Stadt. Das macht nichts, beruhigte Lena, ein bisschen Desinfektion schadet uns nicht.
    Die Altstadt wurde ein wenig hergerichtet und auf dem Markt, wo früher die Intellektuellen ihr Gewissen verkauft hatten, bot man jetzt Souvenirs an. Die Intellektuellen zogen sich auf ihren angestammten Platz zurück, und zwar in den tiefsten Untergrund. San Francisco wurde zu einem Reiseziel für Touristen. Viele kamen aus dem amerikanischen San Francisco. Am Tag grasten sie den Souvenirmarkt ab, abends löffelten sie im teuersten Restaurant der Stadt ukrainischen Borschtsch und sibirische Pelmeni und

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