Biohacking - Gentechnik aus der Garage
Ausprägungen in Ställen existierenden Rindern und Schweinen vermehrten sie sich auch schnell, reichlich und kostengünstig.
Am wichtigsten für Nachtsheim aber war, dass die Züchter in der längsten Do-it-Yourself-Wissenschaftstradition des Planeten standen. Denn mehr oder weniger gezielte und systematische Tier- und Pflanzenzucht gibt es, seit sich die ersten Menschengruppen vom Dasein als Jäger und Sammler verabschiedeten und begannen, Landwirtschaft zu betreiben. Genetik ist damit so gesehen die älteste Wissenschaftsdisziplin überhaupt. Nachtsheim machte nichts anderes, als den Züchtern neue, wissenschaftliche Zuchtmethoden für mehr Fleisch und vor allem – seinerzeit noch besonders wichtig – besseres Fell zu versprechen, wenn sie ihm nur in großen Mengen genau die Versuchstiere lieferten, die er brauchte. Das ging so weit, dass der Forscher sich sogar von 1924 bis 1933 zum Vorsitzenden des „Reichsbunds Deutscher Kaninchenzüchter“ wählen ließ. Die unzähligen Lieferanten Nachtsheims trugen maßgeblich dazu bei, dass dieser in Berlin mit Kaninchen verschiedene Krankheits-Modellsysteme entwickeln konnte, etwa für Grauen Star, Epilepsie und andere neurologische Leiden – und dass das „Versuchskaninchen“ bis heute eines der wichtigsten Versuchstiere weltweit ist.
Man mag Letzteres als zweifelhaften Erfolg der Bürgerwissenschaft interpretieren – vor allem aus tierschützerischer Sicht, aber auch, weil Nachtsheims Versprechen einer Revolution in der Kaninchenzucht höchstens in kommerziellen Zuchtbetrieben wahr geworden ist. Sicher ist aber, dass der Beitrag der untereinander und mit ihrem Chef vernetzten deutschen Züchter zur genetischen und biomedizinischen Forschung riesig war.
Im Grunde funktionieren akademisch koordinierte Citizen-Science-Projekte immer noch nach dem Prinzip, das Nachtsheim damals zwar nicht neu erfand, aber doch perfektionierte: Ein Netzwerk kompetenter und spezifisch interessierter Laien liefert nach einfachen Vorgaben seine Beiträge an die akademische Zentrale und bekommt als Gegenleistung schlicht das Versprechen wissenschaftlichen Fortschritts. Als materielle Kompensation des Aufwandes allerdings gibt es meist nicht mehr als das Äquivalent eines sprichwörtlichen feuchten Händedrucks, ideell aber das Gefühl, an etwas Wichtigem mitgewirkt zu haben, intellektuell einen Zuwachs an Bildung und sozial eine Bereicherung an Kommunikation mit und Anerkennung von Leuten, die sich für Ähnliches interessieren. „Peers“ heißen die Mitglieder solcher Gruppen im soziologischen Jargon, und die Entstehung oder gezielte Produktion von Erkenntnis durch ihre Kooperation untereinander und mit akademischen Initiatoren wird als „Commons Based Peer Production“ bezeichnet. 22 Die gegenwärtigen Projekte sind nur ein wenig diverser als seinerzeit Nachtsheims Hoppelgenetik-Unternehmung und setzen unterschiedliche Niveaus von Expertise voraus. Sie legen etwas mehr Wert auf explizite Anerkennung des Beitrages jedes Einzelnen und die Bereitschaft, auch mit jedem Einzelnen individuelle Fragen zu erörtern. Das Web und der PC erleichtern das Management von Daten sowie den Zugang zu Informationen, die Vernetzung und die Kommunikation untereinander und mit der Zentrale. Aber das Prinzip ist unverändert. Allein die Motivation zum Mitmachen liegt heute meist in einem absolut nicht-materiellen Interesse, zum wissenschaftlichen Fortschritt etwas beizutragen, dafür anerkannt zu werden, dazuzulernen – anders also als etwa in der erhofften Verbesserung der eigenen Kaninchenzucht.
Tatsächlich hat die Frage nach der Motivation, sich an solchen Projekten zu beteiligen, bei denen materiell nichts herausspringt und die nur selten Glückstreffer wie etwa den Hanny van Arkels produzieren, schon manchem Soziologen schlaflose Nächte bereitet. Studien 23 haben inzwischen ziemlich klar gezeigt, dass die Motivation praktisch komplett aus den sozialen Beziehungen, dem Austausch und der Kommunikation mit „Peers“ und der gegenseitig ausgesprochenen Anerkennung für Beiträge kommt. Was dem Projekt zugutekommt, ist also gleichzeitig das Belohnungssystem für die Teilnehmer. Und es ist praktisch komplett umsonst.
Die Zahl solcher Projekte wächst. Im deutschsprachigen Raum etwa gibt es Naturgucker.de, wo die verschiedensten Naturbeobachtungen, Artensichtungen und Ähnliches gemeldet, diskutiert und in Forschungsarbeiten und Dokumentationen von Naturschützern einbezogen werden können.
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