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Birnbaeume bluehen weiß

Birnbaeume bluehen weiß

Titel: Birnbaeume bluehen weiß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
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des Krankenhauses ein kleiner Wald war. Die Entdeckung berührte uns wenig.
    »Es ist also eigentlich nicht so schlimm?«, fragte Gerard.
    »Natürlich ist es schlimm«, sagte Harald. »Es ist besser, nicht im Koma zu liegen. Was ich sagen will, ist, dass nicht alle Komas gleich sind.« Er sah ziemlich angeschlagen aus, als wenn er selbst nicht so recht wüsste, was ein Koma nun eigentlich war.
    Kees hatte seinen Blick nicht mehr auf das Fenster, sondern auf die Apparate gerichtet, die Gersons Bett umrahmten. »Er atmet selbst«, sagte er.
    »Das stimmt«, sagte Harald. »Er atmet, und sein Herz pumpt aus eigener Kraft Blut durch seinen Körper.«
    »Und wann wacht er auf?« Gerard stellte Fragen, die Harald nicht beantworten konnte. Das begriffen sogar wir. Wir sahen es an seinem Gesicht.
    »Abwarten, bestimmt wieder abwarten«, sagte Gerard selbst. »Alle sagen ständig abwarten.« Er seufzte tief. »Ich hasse abwarten. Warten frisst einen auf.«
    »Ja«, sagte Harald. Dann sagte er etwas Seltsames. »Benutzt er etwas gegen Pickel?«
    »Pickel?«, fragte Gerard. »Pickel?«
    »Nein«, sagte Klaas. »Er ist dreizehn, das sind die ersten.«
    »Dann werden wir uns auch darum kümmern«, sagte Harald.
    Später begriffen wir, dass er etwas tun wollte, was auch immer. Harald war Krankenpfleger, er wusste viel, und er konnte viel, aber zerschmetterte Arme wieder ganz kriegen, operieren, solche Sachen konnte er nicht und durfte er nicht. Weil man von Gerson in den ersten paar Wochen wenig mehr sah als seine Nase, seinen Mund und sein Kinn, fielen die beiden Pickel umso mehr auf. Zwei Feuerinseln in einem Meer aus weißem Verband.

    Einen Tag zuvor war uns aufgefallen, dass es sehr seltsam ist, wenn man jemanden nicht ansehen kann. Jetzt fühlten wir, dass es sehr seltsam ist, zu viert um ein Bett herumzustehen und über jemanden zu reden, der in dem Bett liegt. Nicht mit ihm zu reden, sondern über ihn. Als Harald sagte, dass Gerson selbst atmete, hatte er das Deckbett zurückgeschlagen. Wir sahen mit eigenen Augen, wie Gersons Brust sich hob und senkte. Wir sahen sogar sein Herz schlagen. Er war da – er war der Mittelpunkt sozusagen –, aber er war gleichzeitig auch nicht da. Es ist schwierig zu erklären. Alles drehte sich nun um Gerson, aber er war unsichtbar, er schien verschwunden zu sein. Wie ein abwesender Hauptdarsteller in einem Film.
    »Man kann jahrelang im Koma liegen und eines Tageseinfach aufwachen.« Harald strich kurz mit seiner großen Hand über Gersons Brust, bevor er das Laken wieder gerade zupfte. »Gerson kann natürlich auch morgen aufwachen«, fügte er schnell hinzu. »Wir können nichts dafür tun, wir können nichts vorhersagen. Abwarten, wie du schon gesagt hast, das ist das Einzige. Und das ist nicht angenehm.«
    Er hatte »du« zu Gerard gesagt. Das fanden wir nicht seltsam. Gerard saß wie ein kleiner Junge neben Gersons Bett. Ein kleiner, verängstigter Junge. Wir hätten es sogar nicht seltsam gefunden, wenn Harald Gerard übers Haar gestrichen und »alles wird wieder gut« gesagt hätte. Das tat er aber nicht.
    »Ihr geht jetzt besser nach Hause«, sagte er. »Und kommt heute Nachmittag noch mal wieder.«
    »Dürfen wir nicht noch eine Nacht hier bleiben?«, fragte Gerard und wurde ein noch kleinerer Junge.
    »Nein, das geht nicht. Aber ihr könnt Gerson jederzeit besuchen. Wir haben hier keine festen Besuchszeiten. Wenn ihr nicht hier seid, bin ich bei ihm. Oder jemand anders natürlich.«

    Im Zug hatten wir ein Abteil in der ersten Klasse für uns allein. »Ich setze mich nicht zwischen all die Leute«, hatte Gerard gesagt, als wir am Bahnhof ankamen. »All das Gewäsch und Geplapper, dieser sinnlose Luftaustausch, das ertrage ich jetzt nicht.«
    Daan saß am Fenster und schaute mit heraushängender Zunge Bäumen, Gräben, Strommasten und Häusern nach. Wenn er ein Pferd sah, bellte er. Das Fenster beschlug davon. Er schaute jetzt nicht mehr beleidigt und bockig drein, aber auch nicht froh oder schläfrig.
    »Daan schaut anders«, sagte Kees. »Aber wie?«
    »Ernst«, sagte Gerard. Das war das einzige Wort, das er während der Zugfahrt sagte.
    »Bedächtig«, sagte Klaas.
    Kees beugte sich ganz nahe zu Daan. »Er ist ernst, ja«, sagte er. »Das hat er aber schnell gelernt. In einer einzigen Nacht.«

    Ein Taxi brachte uns nach Hause. Wir hatten kein Auto mehr. Zu Hause war alles wie am vorigen Tag, aber alles sah anders aus. Die Sonne, die Vögel, der kleine Friedhof, die Lämmer.

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