Bis an das Ende der Nacht (German Edition)
mehr. Die offene Tür und die schwarze Leere dahinter machten den Anblick noch trübseliger. Wie ein weinendes Baby, hatte Patricia Pike bei ihrem ersten Besuch gefunden. Larry fragte sich, ob es wohl auch in ihrem Buch stand.
Sie hatte ihm ein Exemplar geschickt, im Juli, kurz bevor es in die Buchhandlungen kam. Das Buch hieß In der Nacht vor dem Christfest – das Cover schmückte ein Weihnachtsbaum, der mit kleinen Totenköpfen behängt war. Sie hatte ihm eine Widmung hineingeschrieben: Für Larry – auch wenn ich weiß, dass Sie lieber Romane lesen. Herzlich, Patricia. Er hatte das Register aufgeschlagen, wo sein Name mit einer Menge Seitenzahlen daneben stand, und die glänzenden Bildtafeln in der Mitte des Buchs durchgeblättert. Auf einer war eine Karte von Prescott County zu sehen, mit der Kreisstraße und einem Kreuz im Sullivan-Wald, das das Haus bezeichnete. Als Nächstes kam ein Grundriss des Hauses, mit den Umrisszeichnungen liegender Körper sowie Strichellinien, die Waynes Weg von Zimmer zu Zimmer folgten. Eine weitere Bildtafel zeigte ein Sears-Porträt der ganzen Familie, alle lächelnd, dazu Photos von Wayne und Jenny bei der Abschlussfeier im College. Auch ein Photo von Larry war dabei, geknipst am Tag der Morde. Auf diesem Photo zeigte Larry auf irgendetwas außerhalb des Bildrands, während Sanitäter einen der Jungen, in eine Decke gewickelt, zur Haustür heraustrugen. Larry schien zu rennen – seine Arme waren verschwommen -, was sonderbar war. Niemand war lebend aus dem Haus geborgen worden. Es hatte keinen Anlass zur Eile gegeben.
Das letzte Kapitel war überschrieben: »Warum?« Diesen Teil hatte Larry vollständig gelesen. Jedes Gerücht, jede halbgare Theorie, die Patricia Pike bei ihren Besuchen in der Stadt aufgeschnappt hatte, fand sich hier wieder, in Worte gekleidet, die es klingen ließen, als hätte sie weiter gedacht als irgendjemand vor ihr.
Wayne war verschuldet. Wayne war eifersüchtig, weil Jenny möglicherweise fremdging. Wayne war von einem Arzt wegen seiner Migräne behandelt worden. Wayne war ein Mann, der nie richtig erwachsen geworden war. Wayne lebte in einer Phantasiewelt, mit einer idealen Familie, die er niemals haben würde. Wieder einmal bringt uns die Weigerung des Sheriffsbüros und der Stadtbevölkerung, offen über ihre Alpträume zu sprechen, um die Möglichkeit, einen Mann wie Wayne Sullivan zu verstehen, mitzuhelfen, dass kein anderer in seine blutigen Fußstapfen tritt, und den Prozess der Heilung einzuleiten, die diese Gemeinde so dringend braucht.
Larry hatte sein Exemplar in eine Schublade geworfen und gehofft, dass alle anderen es genauso machen würden.
Aber das Buch war ein Bestseller geworden – alle Bücher von Patricia Pike waren Bestseller. Und kurz darauf waren die ersten Spinner bei dem Haus aufgetaucht. Und dann, heute, hatte Larry einen Anruf vom Bürgermeister bekommen.
Das wird Ihnen gar nicht gefallen, hatte der Bürgermeister begonnen.
Damit hatte er Recht. Ein Kabelkanal plante einen Dokumentarfilm auf der Grundlage des Buches. Ende des Monats würde ein Kamerateam anrücken – kurz vor Weihnachten, der größeren Authentizität halber. Sie wollten am Originalschauplatz drehen, und selbstredend wollten sie auch mit sämtlichen Beteiligten noch einmal reden, allen voran Larry.
Larry zog eine Whiskeyflasche unter seinem Sitz hervor, schraubte, den Blick unverwandt auf das Sullivan-Haus gerichtet, den Deckel ab und nahm einen Schluck. Die Augen tränten ihm, aber er trank ihn hinunter und nahm gleich den nächsten. Er spürte, wie der Schnaps sich in seiner Kehle ausbreitete, in seinem Magen, und hatte eigentlich nur noch den Wunsch, still hinterm Lenkrad zu sitzen und zu trinken. An vielen Abenden machte er es auch so. Jetzt aber stieß er die Tür auf und stieg aus.
Wiese und Haus waren großteils vor dem Wind geschützt, aber die Luft hatte dennoch etwas Beißendes. Er zog die Schultern hoch, öffnete den Kofferraum und holte einen der Benzinkanister heraus, die er sich an der Tankstelle abgefüllt hatte, und dazu ein paar alte Zeitungen. Mit gesenktem Kopf stapfte er auf die offene Haustür zu, vorsichtig die Füße hebend in dem hohen dunklen Gras.
Er konnte das Haus schon riechen, bevor er an der Veranda war – ein Geruch wie von der Unterseite eines nassen Holzscheits. Er knipste seine Taschenlampe an und leuchtete damit in den Eingang, über die fleckigen, bröckelnden Wände. Er trat über die Schwelle. Etwas
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