Bis an das Ende der Nacht (German Edition)
Schultern.
Na dann, sagt er. Gegen Mittag sind wir da, schätze ich.
Der Junge fängt zu weinen an. Es strömt einfach aus ihm heraus. Er hasst sich dafür, aber er kann nicht dagegen an, es geht nicht. Er hasst sich für die Wimmerlaute, die aus seinem Mund kommen, hasst sich für den Rotz, der ihm in die Hand fließt, mit der er sich den Mund zuhalten will.
Na, sagt der Mann und streichelt ihm über den Rücken. Na, na, na.
Der Mann beugt sich vor und drückt seine Stirn an die des Jungen. Sein Atem geht in hastigen Stößen.
Ist ja gut. Du bist bei mir. Ich bieg das schon wieder hin. Lass mich nur machen, ja?
Der Junge weint immer weiter. Seine Arme zucken. So hat er noch nie geweint.
Na na na.
Scheinwerferlicht streicht über sie, und der Mann richtet sich hastig auf, schnappt nach Luft. Der Junge blinzelt in die Helligkeit, dann rollt er sich auf seinem Sitz zusammen. Der Mann dreht den Zündschlüssel und fährt an. Der Junge will, dass der Schlaf kommt, irgendetwas, das dem Weinen ein Ende macht; er igelt sich ein, versucht, sich zu verschanzen vor allem, in der tiefsten Schwärze, die er nur finden kann.
Es ist Morgen, kurz nach Tagesanbruch. Der Mann fährt; der Junge schläft. Wachsam beobachtet er die zusammengerollte Gestalt des Jungen. Er blinzelt in das neue Sonnenlicht im Rückspiegel. Unmittelbar vor Sonnenaufgang haben sie die Staatsgrenze von Colorado passiert.
Als die Sonne voll am Himmel steht, wacht der Junge auf, gähnend, zerzaust. Einen Moment lang schaut er verwirrt, arglos, aber dann verändert sich sein Ausdruck; er erinnert sich.
Der Mann sagt: Rate, wo wir jetzt sind? In Colorado!
Der Junge sieht aus dem Fenster; der Mann beobachtet ihn aus den Augenwinkeln, versucht auszuloten, was jetzt wohl in dem Kind vorgeht.
Ich denk, da sollten Berge sein, sagt der Junge nach einer Weile. Das sieht ja aus wie Kansas.
Diese Hälfte schon. Die Berge kommen erst auf der Westseite.
Und wie weit sind wir?
Eine Stunde vielleicht.
Der Junge späht nach vorne, zur Windschutzscheibe hinaus, den Hals gereckt.
Mein Vater hat früher immer ein Spiel mit mir gespielt, wenn wir hier langgefahren sind, sagt der Mann. Wer als Erster den Pikes Peak sieht. Man sieht ihn schon von weitem.
Der Junge späht mit erhöhter Aufmerksamkeit nach vorn.
Ich sag dir was, sagt der Mann. Wenn du ihn als Erster siehst, spendier ich dir ein Eis.
Und wenn nicht?
Da fällt uns schon was ein, sagt der Mann und lacht. Er pufft den Jungen zwischen die Rippen.
Der Junge biegt sich weg, ohne eine Miene zu verziehen, und starrt weiter in die Ferne.
Du musst auf Zack sein, sagt der Mann. Ich hab ziemlich viel Übung.
Der Mann schaltet das Radio ein und lächelt beim Fahren vor sich hin. Beide schauen sie geradeaus, dahin, wo die Berge in Sicht kommen werden; der Pick-up dröhnt und klappert und brummt. Es ist schwer, irgendetwas am Horizont auszumachen; die Konturen kommen nie scharf ins Bild. Ein Huppel vor ihnen könnte genauso gut ein Berg sein wie eine Wolke oder ein Insekt auf der Windschutzscheibe.
Der Junge hält so angestrengt Ausschau, dass er fast das Blinzeln vergisst. Der Mann kann der Versuchung nicht widerstehen. Er langt hinüber und legt dem Jungen die Hand in den Nacken. Der Junge wirft einen Blick zu ihm und vertieft sich dann wieder in sein Spähen, schmallippig, eulenhaft hinter seiner Brille.
Was für ein Gefühl das ist, den Jungen anfassen. Der Mann möchte weinen, dass ihm das möglich ist. Es kommt ihm vor, als liefen seine sämtlichen Nerven in seiner Handfläche zusammen. Als … als würde dieser Nacken sich wellen wie die Stra ße, sich aufwerfen, sich wieder wegducken, jeder Kontakt ein kleiner Stromschlag an den Fingern des Mannes, die ihn durch seinen ganzen Körper weiterleiten.
Versteht der Junge, was mit ihnen beiden passiert? Was alles passieren könnte? Der Mann bezweifelt es. Man muss älter sein, überlegt er, um es auch nur zu ahnen. Oder doch nicht? Bis gestern mag das noch gestimmt haben, aber heute kann dem armen Kerl weiß Gott was durch den Sinn gehen.
Liebe und Mitleid wallen in dem Mann auf. Mein Junge. Er streichelt mit dem Daumen behutsam die flaumige Höhlung zwischen Kinnlade und Hals entlang, und der Junge antwortet mit einer kleinen Bewegung, fast einem Schauder oder – ja, was? Der Mann kann es nicht sehen; er will nicht den Kopf wenden und schauen.
Er fasst das Lenkrad fester und konzentriert sich stattdessen auf die Gewissheiten: den flachen weiten
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