Bis an das Ende der Nacht (German Edition)
erfassen kann – wohl ein halber Meter muss an die Hüttenwand geweht worden sein, wenn nicht mehr. Er sieht nicht mal den See – nur einen verwischten Flecken Grau, viel kleiner, als er ihn in Erinnerung hatte, der zwischen den Schneeschleiern auftaucht und wieder verschwindet.
Das Thermometer an dem Pfosten zeigt minus vierzehn Grad. An die Zahlen so weit unten auf der Skala sind blaue Eiszapfen gemalt.
Als er ins Zelt zurückkriecht, ist Mel wach, ihre Augen groß und starr über der Zudecke. Er wünscht sich, er könnte hoffnungsvoll schauen, aber es geht nicht. Und sie hört den Sturm ja genauso wie er.
Wir sollten was essen, sagt er.
Also frühstücken sie Thunfisch auf Brot und teilen sich eine Dose Limo; sie haben die Dosen neben dem Grill stehen, aber auch so ist der Inhalt halb Schneematsch, halb Sirup, fast zu kalt zum Schlucken.
Nach dem Essen kauern sie schaudernd in der Mitte der Matratze. Und Mel sagt: Ich mach mir ein bisschen Sorgen um meine Füße.
Er zieht ihre Füße auf seinen Schoß. Sie hat Socken von ihm über ihre eigenen gezogen, aber genützt hat es nichts; ihre Füße fühlen sich an wie aus Eis. Er rubbelt und rubbelt sie, bis Mel sagt, sie kribbeln, dann packt er sie in sein T-Shirt zum Wechseln ein.
Sie sieht ihn nicht an. Er weiß, sie wartet darauf, dass er sich irgendetwas ausdenkt.
Es hört sicher bald auf, sagt er. Wir müssen einfach noch ein bisschen Geduld haben.
Sie antwortet nicht.
Lange Zeit dösen sie beide. Ab und zu flaut der Schneesturm ab, und wenn das passiert – wenn das graue Licht eine Spur heller glimmt -, schlurft Brad zur Tür, hält sich den Arm vors Gesicht und schaut hinaus auf die dicke weiße Decke, auf das Thermometer, das unverändert bei minus vierzehn, fünfzehn verharrt.
Manchmal kann er sehen, dass Mel wach ist – spürt ihren Blick -, und er will sie fragen, an was sie denkt. Aber er fragt nicht. Wozu auch? Sie wälzt ja doch nur dieselben unbrauchbaren Pläne, die er seit letzter Nacht immer wieder verwirft.
Bis zur Tankstelle sind es acht Meilen, mehr oder weniger. Nach der anderen Seite geht die Schotterstraße weiter, tiefer in den Wald hinein, und es könnte – könnte – sein, dass nicht so weit weg jemand wohnt. Der Mensch in dem gelben Jeep zum Beispiel. Aber es könnte genausogut sein, dass die Schotterstraße nur zu noch mehr Wald führt. Oder zu noch mehr leeren Hütten.
An wie vielen sind sie auf der Fahrt hierher vorbeigekommen? Drei? Zwei? Er weiß es nicht mehr. Ohnehin ist nicht damit zu rechnen, dass irgendeines der Häuschen hier draußen Strom oder Telefon hat. Heizung dagegen – das ist etwas anderes. In einer von diesen Hütten muss es doch einen Kamin geben, oder einen Holzofen.
Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass jegliche andere Behausung mindestens drei Meilen entfernt liegt. Eher noch mehr. Was einen Fußmarsch bedeutet. Und sie haben nur Jacken. Mels Schuhe sind verdammt noch mal voller Löcher.
Abgesehen davon – Brad hat versucht, den Gedanken wegzuschieben, aber er lässt sich nicht wegschieben -, angenommen, sie schaffen es tatsächlich bis zur Tankstelle oder irgendwohin, wo es ein Telefon gibt: Was sollen sie sagen? Bis sie irgendwen erreichen, sind sie im Zweifel mehr tot als lebendig – und das heißt Polizei, Ärzte, ein Krankenhaus. Fragen. Und wie wollen sie die beantworten? Wir sind nur ein bisschen durch die Gegend gekurvt?
Sechs Monate blühen ihm schon allein dafür, dass er gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen hat. Dazu Hausfriedensbruch, unbefugtes Eindringen, Besitz eines gestohlenen Fahrzeugs – er müsste für eine ganze Weile zurück in den Knast, vielleicht sogar so lange, dass er vom Cook County Jail in eines der Zuchthäuser verlegt würde.
Mel, sagt er.
Mhm?
Red mit mir, sagt er. Es ist zu still hier drin.
Ich versuche, an gar nichts zu denken, murmelt sie.
Das kann er verstehen. Aber etwas an ihrer Stimme gefällt ihm nicht, und ihm wird klar: Es ist die Gleichmäßigkeit. Mel klingt zu ruhig.
Erzähl mir was, sagt er.
Was denn?
Erzähl mir, wo wir mal wohnen werden.
Sie legt den Kopf so, dass er ihre Augen sehen kann. Die Wohnung?, fragt sie.
Nein. Dein Traumhaus. Erzähl mir von deinem Traumhaus.
Ich weiß nicht, sagt sie.
Aber dann erzählt sie doch. Sie schildert ihm North Carolina, das Strandhaus, in dem sie einmal in Ferien war, noch auf der High School. Nach einer Weile kommen die Hände unter der Zudecke hervor und formen die Worte mit.
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