Bis an das Ende der Nacht (German Edition)
dann versteht er, dass sie gar nicht weg war, dass sie in seinen Armen liegt, kalt wie nie.
Seine Hand bekommt die Kerze zu fassen und hält sie in Mels Nähe. Mel liegt von ihm weggewendet. Er sagt ihren Namen, packt sie an der Schulter, schüttelt sie. Er dreht ihren Kopf zu sich her. Ihr Gesicht ist grau, die Augen nur mehr weiße Schlitze. Galle rinnt ihr aus dem Mund.
Die Zeit kommt ihm für eine Weile abhanden
Erst redet er noch mit ihr, so als könnte es sein, dass sie doch noch da ist, irgendwo dort drin.
Er sagt ihr, dass er sie liebt. Er sagt ihr, dass er tot sein möchte.
Er fragt: Was soll dieser Scheiß?
Das fragt er, als er versucht, ihr das Gesicht sauberzuwischen, als er sie auf seinen Schoß zieht und das leere Tablettenfläschchen unter ihr hervorrollt. Als er begreift, dass es nicht nur die Kälte war.
Er sagt ihr, dass sie verrückt ist, dass er sie hasst. Dass er sich fragt, wie er sich je in so eine übergeschnappte, egoistische Schlampe wie sie verlieben konnte.
Er sagt ihr, er weiß schon, was sie jetzt von ihm will, aber er denkt gar nicht daran, es zu tun. Er sagt ihr, dass er verdammt nochmal trotzdem sterben wird.
Nicht lange danach brennt die Kerze zu einem winzigen Fünkchen herab und verglimmt dann zu nichts.
Die andere zünd ich nicht mehr an, sagt er ihr. Aber nach einer Weile wird die Dunkelheit zu viel für ihn, die Kälte wird zu viel für ihn, und er tut es doch.
Er kriecht fast hinein in die kleine Flamme, hält die Hände darüber, bis sie sich mit Schmerz füllen.
Einmal könnte er schwören, dass Mel sich enger an ihn schmiegt und dass ihre Haut warm ist. Er reibt ihr die Füße und küsst sie und sagt ihr, dass es ihm leid tut, dass er sie heiraten will und mit ihr in einem Haus auf Stelzen wohnen, direkt am Meer.
Dann wird er mit einem Ruck wach. Die Kerze ist zu einem Drittel heruntergebrannt. Er kann Mels Scheitel ausmachen, die weiße Rundung ihrer Stirn. Er berührt ihr Haar, zieht die Hand zurück.
Er kann sie sehen. Diese Helle, das ist mehr als nur Kerzenschein.
Langsam, steif rafft er die Zudecke um die Schultern und schlägt die Steppdecke zurück. Das Zimmer ist so hell, dass es ihm in den Augen weh tut – durch die Fenster sieht er, blinzelnd, blauen Himmel. Und die Luft fühlt sich anders an – wärmer, ganz bestimmt. Seine Füße machen nicht recht mit, aber er schleppt sich hinüber, öffnet die Tür, um nach der Temperatur zu schauen, und richtig: es sind nur noch minus vier Grad. Die Sonne glitzert auf dem flachen Schneefeld, das einmal der See war.
Ein Sonnenstreifen wandert langsam über die Dielenbretter. Er zerrt die Matratze bis zu ihm hin, hockt in der Wärme neben Mel. Als er die Strahlen auf seinem Nacken spürt, jammert er laut.
Ich hab’s dir doch gesagt, jammert er. Du hast gekniffen, verdammt!
Er sollte sich auf den Weg machen, er weiß es. Aber die Sonne scheint so warm, dass er nicht denken kann, dass er kaum fähig ist, sich zu rühren.
Später – nur ein paar Stunden, scheint ihm, aber sicher ist er sich nicht – hört Brad ein Geräusch: einen Motor, kaum zu glauben, einen starken Motor. Er geht hinüber zur Rückwand der Hütte und späht hinaus.
Draußen auf der Straße rumpelt ein roter Pick-up mit Schneeräumer vorbei und schleudert eine weiße Fontäne in die Luft. Oder ist das eine Halluzination?
Siehst du?, sagt er zu Mel. Siehst du das?
Du verdammter Feigling, sagt er. Zu wem, weiß er nicht.
Brad zieht so viele Kleidungsstücke übereinander an, wie er nur kann. Er durchsucht Mels Handtasche und nimmt ihr Bargeld an sich: siebenundachtzig Dollar sind es mit seinem zusammen. Er steckt ihre Zigaretten ein.
Er öffnet die letzte Dose Thunfisch mit seinem Taschenmesser und isst ihn mit den Fingern, auch wenn die Brocken aneinander festgefroren sind und sich ihm in der Kehle querstellen.
Als er schon an der Tür steht, dreht er sich noch einmal um und schaut zurück zu Mel. Und der Anblick ihres blassen Gesichts ist mehr, als er ertragen kann – es ist, als wäre sie wach, als würde er jemanden im Stich lassen, der noch lebt.
Also wickelt er sie in die Steppdecke ein. Es ist mühsamer, als er sich vorgestellt hat. Sie ist steif geworden, und sie ist schwer – mit einem beschämenden Aufwallen der Erleichterung sagt er sich, dass er sie nie und nimmer hätte tragen können. Als er fertig ist, lässt er sie so sanft wie nur möglich auf die Matratze zurückgleiten, und dann sitzt er da, die Hand auf
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