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Bis ans Ende der Welt

Bis ans Ende der Welt

Titel: Bis ans Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Ulrich
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und machte nur Umstände. Habe ich ihn denn nicht jeden Tag auf das Sorgfältigste gewaschen und gewienert, mir darum nicht ständig Sorgen gemacht? Immerhin brachte er mich auf diese Weise bis zu der berühmten Brücke des Hospital de Órbigo, wo er sich vor der romantischen Kulisse dieses erstaunlichen Bauwerks ausruhen durfte. Diese römische Brücke, lang, gewunden und gebogen, war einst der Tatort des sogenannten Paso Honroso , des ehrenvollen Ganges, sprich einer ritterlichen Schlägerei zum Zwecke der Ehre und der Bereicherung. Die gängige Legende besagt, an dieser Stelle hätte ein gewisser Caballero Suero de Quiñones aus Liebe zu einer gewissen Dame geschworen, rund um den Jakobstag des Jahres 1434 dreihundert Lanzen, sprich Gegner zu brechen. Mit amtlicher Erlaubnis habe er sich mit zehn Kampfgefährten an diese Brücke begeben, die alle Pilger passieren müssen, und die vorbeiziehenden Edelleute zum ritterlichen Zweikampf gefordert. Dem konnten sie sich aufgrund des vorherrschenden Ehrenkodex nicht entziehen. Nach Abschluß des Turniers, bei dem nur ein Edelmann zu Tode gekommen sein soll, seien Herausforderer und Gegner gemeinsam nach Santiago zum Schrein des Apostels gezogen, wo der Held seine Fessel — ein Strumpfband der bewußten Dame — dem Kathedraleschatz stiftete. Vor so viel Edelmut verbeugt sich sogar Cervantes’ Don Quijote. Andere Zungen aber erzählen, der Mann habe ziemliche Schulden und legale Probleme ausgerechnet wegen Wegelagerei gehabt und zu dem besagten Termin eine erhebliche Summe Lösegeld dem Richter zu bringen, wenn er nicht ins Gefängnis wollte. Außerdem konnte er damit rechnen, daß wallfahrende Edelleute keine schweren Waffen bei sich tragen oder besonders kriegerisch sein würden. Ein Schmarren insgesamt, verdreht und erlogen. Mir solchen Räuberpistolen füttern die Mächtigen seit eh und je das Volk, damit es nicht auf eigene, sprich dumme Gedanken kommt. Damals wie heute. Immer gibt es etwas zu verteidigen, sei es die Ehre einer strumpfbandstiftenden Dame an einer Brücke oder der wahre Glaube in Jerusalem oder die Demokratie in Afghanistan oder sonst was. Immer gibt es etwas, was uns bedroht und alle Greuel rechtfertigt. Und das Volk scharrt gleich mit den Füßen und spielt freudig mit, denn was ist denn schöner, als sich für eine gerechte Sache hinzugeben. Und wer nicht mitmachen möchte, ist Spaßverderber und wird plattgemacht.
    Bald trieb es mich weiter über die Brücke, unter der sich im Frühjahr im lehmigen Boden das Schmelzwasser aus den umliegenden Bergen sammelt, und die deshalb so lang und mächtig und romantisch schön ausfiel. Ich hatte nicht mehr weit zu gehen. Astorga, im Mittelalter der Ort mit den meisten Pilgerunterkünften auf dem Camino, wartete schon auf meine kranke, geschundene Hülle, und sie wiederum sehnte sich nach dem Bett dort. Über der Stadt, am steinernen Wegkreuz, rastete ich noch einmal. Es ist eine denkwürdige Stelle, an der man nicht so einfach vorbeigehen kann, ohne sich auf den Herrn zu besinnen. Es ist ein Ort, wie er ihm gefällt, und wo man ihn meist auch finden kann. Hier wie mit einem Schlag endet Meseta, die von allen Pilgern gefürchtete kastilische Hochebene. Im tiefen Tal liegt die Stadt und dahinter erhebt sich eine steile Gebirgswand, fünfzehnhundert Meter hoch und schräg wie eine Mauer. Mit Astorga zu Füßen saß ich lange unter dem uralten Wegkreuz und meditierte. Das Gebirge war mir eine willkommene Abwechslung, der Körper grollte, wagte aber nicht zu widersprechen, wenn er nur endlich wieder ruhen kann, was ich versprach und hielt. Nur keine Rundgänge und Kräfte sparen, hieß die Devise. Obwohl die Stadt geradezu toll und aufregend ist, mit einer Kathedrale aus dem 16. Jahrhundert und einem neogotischen Bischofspalais aus der Hand des berühmten spanischen Architekten Gaudi. Beide würden leicht einer Hauptstadt die Ehre machen, werden aber der Tatsache gerecht, daß Astorga schon im vierten Jahrhundert ein Bischofsitz war. In der Römerzeit war die Asturica Augusta ein Bollwerk auf dem Weg zu den Goldminen von Carrucedo, im Mittelalter ein Teil der Verteidigung von Asturien und Galicien. Dazwischen herrschten Westgoten und Mauren, deren Gene in der Bevölkerung noch sichtbar sind. Es ist keine große Stadt, aber gewiß eine bedeutende. Statt sie gründlich zu besichtigen und ihre Schönheiten zu entdecken, hockte ich wie versprochen auf der Terrasse der Herberge und sah einer Deutschen zu, wie sie dort

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