Bis ans Ende der Welt
zu sehen, war schon etwas. Es standen dort alte, verkrüppelte Apfelbäume im hohen Gras, die Äpfel waren schon rot und reif. Es war offensichtlich, daß der Sommer nun rasch dem Ende zuging. Wo waren denn die Hitzetage, wenn die zitternd heiße Luft wie eine Filzdecke über den Feldern lag, und alles den Atem anhielt, um den Himmel nicht einstürzen zu lassen. Auf und davon war der Hochsommer, wie mit dem Zauberstab weggefegt. Am Abend war das Gras feucht, und es war auch im Haus schon recht kalt und klamm. Da war man für die Tasse Kamillentee zum Frühstück gleich doppelt dankbar.
Astorga, km 2587
Es sollte auch am nächsten Tag kein leichter Weg werden. Die ersten sieben Kilometer lief ich noch geduldig entlang der Straße und litt an Häßlichkeit, Staub und Lärm. Dann hielt ich es nicht mehr aus und nahm die nächste Alternativstrecke, die freilich wieder voller Kiesel war. Eine richtige Stolperpiste und ein Risiko für meinen kranken Fuß. Das es hier so häufig Wegvarianten gab, war ein sicheres Zeichen, daß auch andere Zeitgenossen meine Gefühle teilten. Ein geistig reger Mensch kann einfach nicht lange neben der Schnellstraße gehen. Eine Schnellstraße auf den Camino zu bauen, war ein echt spanischer Reinfall. Eines hatte dann zu weichen, entweder der Camino oder die Straße. Daß man beides nebeneinander beließ, so vermutlich nur deshalb, um nicht den armen Dörfern das kleine Einkommen aus dem Pilgertourismus zu nehmen. Es gab ja sonst nichts außer der Landwirtschaft, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Autos, Laster, Züge rasten ohne anzuhalten vorbei, hinterließen Dreck und Lärm. Nur die Pilger mußten rasten und dafür in die Tasche langen. Wenn auch nicht sehr tief. Alles war einfach und dementsprechend billig. Die letzte Herberge kostete nur drei Euro, für sechs Euro hätte man gar ein Einzelzimmer haben können, das Abendessen kam auf acht Euro. Davon konnte man beim besten Willen nicht reich werden. Und dies war wohl die lukrativste Unternehmung vor Ort. Ich überlegte, ob ich den Mut hätte, hier das Leben zu verbringen. Ich könnte wohl als Leuchtturmwächter, Mönch oder Bergbauer ein erfülltes Leben führen, aber hier? Wohl kaum. Es gab auch nicht viele Menschen zu sehen, Kinder und Jugendliche fast gar nicht. Hier beeilte man sich, rechtzeitig wegzukommen. Bis auf die zwei betont zufriedenen Deutschen, die ich gerade traf. Alles herrlich, alles super, alles Camino. Wie üblich. Sagt man was Kritisches, ziehen sie sich gleich zurück. Wie eine Schnecke in ihr Häuschen. Wozu denn streiten? Bietet man ihnen was an, nehmen sie es nicht, sie haben ja Eigenes. Das sie freilich mit niemanden teilen möchten. Auch nichts Persönliches. Jeder nach seinem Geschmack, andere Länder, andere Sitten, und jeder soll doch auf seine Art glücklich werden. Damit, einem bescheidenen Brocken Denglisch und etwas Geld komen sie überall in der Welt durch, ohne viel denken zu müssen. Hat man kein Brot, so soll man doch Kuchen essen, lebt man armselig in der Öde, so möchte man es vermutlich nicht anders, sind die Wege schlecht, so sollte man den Bus nehmen. Menschen ohne sichtbare Werte, ohne sichtbare Überzeugung, ohne Mitleid und Gnade, scheinbar mit allem zufrieden. Moderne, tolerante Großstadtmenschen. Bis man ihre Kreise stört. Dann holen sie die Büttelkappe aus der Tasche und lehren Zucht und Ordnung. „Binden Sie doch ihren Hund fest, stellen Sie sich hinten an, das hätten Sie sich früher überlegen sollen, sehen Sie nicht, daß Sie stören?“ Nein, meine Herren, ich nehme doch lieber den Kuchen, wenn Sie erlauben, und fliehe euch.
Ich lief schweren Schrittes, schweren Herzens, konnte spüren, es lag kein Schwung, keine Freude, kein Segen darin. Trotzdem kam ich weiter. Trotz Wunde, trotz Kleinmut, trotz Erkältung. Ich versuchte mich mit dem Bild zu trösten, wie die Bundeskanzlerin Merkel dem Präsidenten Busch auf sein Jammern, die Iraner würden ja eine Atombombe bauen, keck und lässig mit den Schultern zuckt, den Mund spitzt und charmant antwortet: „Jeder nach seinem Geschmack. Andere Länder, andere Sitten.“ Es wollte mir aber nicht so recht gelingen. Also ließ ich Politik Politik sein, zauberte mir im Kopf einen schönen Waldrand mit Lerchen, Birken und einem grasigen Tal davor und ließ mich dort nieder. Den armen Körper ließ ich derweil weitermarschieren, sollte er sehen, wie er zurecht kommt. Ein lästiges, undankbares Ding war er, verlangte ewige Aufmerksamkeit
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